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Die fabelhafte Welt der Mathematik: Retten negative Wahrscheinlichkeiten die Quantenmechanik?

Der Welle-Teilchen-Dualismus wirft seit Jahrzehnten viele Fragen auf: Warum verhalten sich Quanten mal wie Teilchen und mal wie Wellen? Negative Wahrscheinlichkeiten liefern eine Antwort.
Welle-Teilchen-Dualismus
In der Quantenphysik verhalten sich Teilchen mal wie punktförmige Objekte, mal wie eine Welle. Das lässt sich mit negativen Wahrscheinlichkeiten erklären.
Viele Menschen denken, Mathematik sei kompliziert und öde. In dieser Serie möchten wir das widerlegen – und stellen unsere liebsten Gegenbeispiele vor: von schlechtem Wetter über magische Verdopplungen hin zu Steuertricks. Die Artikel können Sie hier lesen oder als Buch kaufen.

Im Mathematikunterricht lernt man jede Menge Gesetze kennen, zum Beispiel: Teile niemals durch null, ziehe keine Wurzel aus negativen Zahlen oder Wahrscheinlichkeiten dürfen nie kleiner als null sein. Aber nur das erste dieser Gesetze ist wirklich unumstößlich.

Tatsächlich hat das Brechen von Regeln die Fachwelt in der Vergangenheit immer weit vorangebracht. Wenn Sie bereits andere Artikel von mir gelesen haben, dann sind Ihnen bestimmt schon imaginäre oder komplexe Zahlen begegnet, die Wurzeln aus negativen Zahlen enthalten. Mathematiker sind während der Renaissance auf sie gestoßen, als sie sich erbitterten Duellen hingaben, in denen sie ihre Karriere und ihren Ruf verteidigen mussten – die Duelle fanden allerdings mit Schreibwerkzeugen statt und endeten glücklicherweise nicht mit einem Schusswechsel.

Etwas weniger bekannt ist der Verstoß gegen die Gebote rund um die Wahrscheinlichkeiten. »Negative Wahrscheinlichkeiten sollten nicht als Unsinn angesehen werden«, schrieb der Physiker Paul Dirac bereits im Jahr 1942. »Sie sind aus mathematischer Sicht wohl definiert, so wie negatives Geld.« Wie sich herausstellt, erweisen sich negative Wahrscheinlichkeiten als erstaunlich nützlich, vor allem in der Quantenmechanik: Dort können sie eines der größten Rätsel lösen, nämlich den seltsamen Welle-Teilchen-Dualismus, laut dem sich ein Teilchen mal wie ein punktförmiges Objekt und mal wie eine Welle verhält.

Die Auffassung von negativen Wahrscheinlichkeiten erinnert stark an die der negativen Zahlen. Heute lernt man bereits in der Grundschule, dass Zahlen ein Minus als Vorzeichen haben können. Doch das war lange Zeit umstritten. Denn in Europa wurden Zahlen bis ins 16. Jahrhundert als geometrische Größen angesehen; sie entsprachen Länge, Fläche oder Volumen eines Körpers. Aus dieser Sicht macht ein negativer Wert natürlich keinen Sinn, denn was soll eine negative Länge darstellen? Die Fachwelt musste sich erst von dieser geometrischen Perspektive lösen. Ähnlich könnte es bei Wahrscheinlichkeiten sein. Es ergibt sich ein völlig neues Bild von Wahrscheinlichkeiten, wenn man sie von einer informationstheoretischen Seite aus betrachtet – dort sind negative Werte plötzlich durchaus sinnvoll.

Ein Fundament für die Wahrscheinlichkeitstheorie

Im Jahr 1933 begründete der sowjetische Physiker Andrei Kolmogorow das Fundament der Wahrscheinlichkeitstheorie, indem er drei Axiome aufstellte. Dabei handelt es sich um drei unbestreitbare Grundwahrheiten, aus denen sich die gesamte Wahrscheinlichkeitstheorie ableiten lässt. Erstens: Die Wahrscheinlichkeit für ein Ereignis ist eine positive, reelle Zahl. Zweitens: Die Summe aller möglichen Wahrscheinlichkeiten ergibt eins. Schließlich drittens: Die Wahrscheinlichkeit, dass mehrere unabhängige Ereignisse eintreten, entspricht der Summe der einzelnen Wahrscheinlichkeiten. Das ist im Prinzip nichts anderes, als man heute noch in der Schule in der Wahrscheinlichkeitsrechnung lernt.

»Um negative Wahrscheinlichkeiten zu verwenden, brauchen wir das ›Paradies‹ der Kolmogorow-Theorie nicht zu verlassen«Gábor Székely, Mathematiker

Etwa zur selben Zeit erkannten Physikerinnen und Physiker jedoch, dass das erste Axiom nicht immer erfüllt sein muss. »Um negative Wahrscheinlichkeiten zu verwenden, brauchen wir das ›Paradies‹ der Kolmogorow-Theorie nicht zu verlassen«, schrieb der Mathematiker Gábor Székely 2005 im »Wilmott Magazine«. »Wir müssen sie nur flexibler anwenden.«

Um das zu verstehen, hilft ein einfaches Gedankenexperiment. Dazu betrachtet man einen Startpunkt S, von dem aus zwei verschiedene Ziele A und B erreicht werden können. Mit einer Wahrscheinlichkeit von ¾ geht man zu Punkt A und mit ¼ zu Punkt B. Von dort aus kann man nun weitergehen und drei verschiedene Ziele X, Y und Z erreichen: Von A aus kommt man mit einer Wahrscheinlichkeit von ⅓ zum Punkt X und mit ⅔ zu Y; von B aus gelangt man mit einer Wahrscheinlichkeit von 35 Y und von 25 Z.

Gewöhnliche Wahrscheinlichkeiten | In diesem Gedankenexperiment kann man verschiedene Wege mit gewohnten Wahrscheinlichkeiten beschreiten.

So weit erstmal nichts Ungewöhnliches. Alle Wahrscheinlichkeiten erfüllen die Kolmogorow-Axiome. Nun kann man sich ansehen, wie groß die Wahrscheinlichkeiten sind, vom Startpunkt S zu den Zielen X, Y und Z zu gelangen – unabhängig davon, ob man über A oder B verkehrt. In diesem Fall muss man die Wahrscheinlichkeiten in geeigneter Weise miteinander multiplizieren und addieren. Um zum Punkt X zu kommen, gibt es nur einen Pfad über A, so dass die Wahrscheinlichkeit ¾ · ⅓ = ¼ beträgt. Zu Y führen hingegen zwei Wege, einmal über A und einmal über B, daher ist die Wahrscheinlichkeit, bei Y zu landen ¾ · ⅔ + ¼ · 351320. Und Z erreicht man entsprechend mit einer Wahrscheinlichkeit von ¼ · 25 = 110. Insgesamt addieren sich die Wahrscheinlichkeiten, zu X, Y oder Z zu gelangen, zu 1 – genau so, wie Kolmogorow es forderte.

Summe der Wahrscheinlichkeiten | Die Wahrscheinlichkeit dafür, bei dem Punkt X, Y oder Z zu landen, entspricht in Summe eins – wie von Kolmogorow gefordert.

Nun könnte man ein leicht verändertes Experiment durchführen, bei dem man vom Startpunkt S aus wieder bei X, Y oder Z landet – aber dieses Mal, ohne zu wissen, wie man genau dorthin kommt. Sprich: Die Ebene mit den Punkten A und B ist für den Experimentator verdeckt.

Da man zwingend bei X, Y oder Z endet, müssen sich die Wahrscheinlichkeiten dieser Ereignisse zu eins addieren und allesamt positiv sein, wie von Kolmogorow gefordert. Doch das, was dazwischen geschieht, bleibt im Verborgenen – daher kann man dort etwas lascher mit Kolmogorows Axiomen umgehen.

Zum Beispiel könnten die Wahrscheinlichkeiten, A und B zu erreichen, immer noch ¾ und ¼ betragen. Auch die Wege von A zu X und Y behalten ihre Wahrscheinlichkeiten bei (⅓ und ⅔). Doch von B zu Y und Z betragen die Wahrscheinlichkeiten nun -½ und 32 (wir kümmern uns zunächst nicht darum, was negative Werte oder Zahlen größer als eins in diesem Kontext bedeuten).

Diese Änderung erscheint vielleicht völlig verrückt. Doch wenn man die messbaren Wahrscheinlichkeiten betrachtet – also jene, von S zu X, Y oder Z zu gelangen –, dann ergeben sich folgende Ergebnisse: X wird mit einer Wahrscheinlichkeit von ¼ erreicht (genau wie zuvor) und Y und Z jeweils mit einer Wahrscheinlichkeit von 38.

Negative Wahrscheinlichkeiten | Verdeckt man eine Ebene des Experiments, könnten die Wahrscheinlichkeiten für bestimmte Pfade auch negative Werte annehmen. Die messbaren Wahrscheinlichkeiten (für X, Y und Z) sind dann trotzdem positiv und ergeben in Summe eins.

Eine solche Wahrscheinlichkeitsverteilung würde niemanden verwundern, schließlich sind alle Werte positiv, kleiner als eins und ihre Summe ergibt genau eins. Zunächst würde wohl niemand vermuten, dass negative Wahrscheinlichkeiten am Ergebnis beteiligt waren. Das zeigt sich erst, wenn man einen der Wegpunkte, beispielsweise B, blockiert und dann die neue Wahrscheinlichkeitsverteilung für X, Y und Z betrachtet. In diesem Fall ergibt sich für X der Wert ⅓, für Z die Wahrscheinlichkeit 0 – und für Y die Wahrscheinlichkeit ⅔. Das heißt, Y wird nun eher erreicht, obwohl es weniger Möglichkeiten gibt, zu diesem Punkt zu gelangen.

Seltsames Verhalten | Schließt man einen der Wege aus, der negative Wahrscheinlichkeiten enthält, können sich unerwartete Konsequenzen ergeben. So steigt dadurch die Wahrscheinlichkeit, Punkt Y zu erreichen, obwohl nun weniger Wege zu Y führen.

Solche kontraintuitiven Situationen deuten auf negative Wahrscheinlichkeiten hin. Und tatsächlich konnten Fachleute so ein seltsames Verhalten bereits in realen Laborversuchen beobachten.

Welle oder Teilchen?

Das zuvor beschriebene Gedankenexperiment entspricht tatsächlich einem der berühmtesten Versuche der Geschichte: das youngsche Doppelspaltexperiment. In diesem Fall entspricht der Startpunkt S einer Quelle, die einzelne Teilchen aussendet. A und B stellten zwei Schlitze in einem sonst unüberwindbaren Hindernis dar, durch das die Teilchen schlüpfen können, um dann auf einen dahinter befindlichen Schirm zu landen. Dann lässt sich zum Beispiel ermitteln, mit welcher Wahrscheinlichkeit die Teilchen auf den drei Punkten X, Y und Z des Schirms auftreffen.

Dazu muss man wissen: Die Quantenmechanik fußt auf Wahrscheinlichkeiten. Man kann ein und dasselbe Experiment exakt gleich durchführen; es kann immer etwas anderes herauskommen. Das macht die Quantenphysik extrem unintuitiv. Führt man das Doppelspaltexperiment viele Male mit einzelnen Teilchen durch, erhält man eine Wahrscheinlichkeitsverteilung, die angibt, mit welcher Chance ein Teilchen an welcher Stelle des Schirms landet.

Wenn man sich Teilchen als winzige punktförmige Objekte vorstellt, dann sollten sie entweder den einen oder den anderen Schlitz passieren und daher nur an zwei Stellen unmittelbar dahinter auf dem Schirm landen. Stattdessen aber beobachten die Physikerinnen und Physiker ein regelmäßiges Streifenmuster: An manchen Stellen kommen besonders viele Teilchen an, an anderen hingegen überhaupt keine.

Doppelspalt-Experiment | Eine Quelle (S) strahlt einzelne Teilchen vorbei an einen Doppelspalt auf einen Schirm. Oben ist die Wahrscheinlichkeitsverteilung gezeigt, die angibt, wo ein Teilchen detektiert wird.

Eine beliebte Erklärung (die aber wahrscheinlich mehr Fragen als Antworten aufwirft) für das Phänomen ist, dass sich Teilchen manchmal wie Wellen verhalten. Denn Wasserwellen oder andere Wellen bilden hinter einem Doppelspalt ebenfalls ein solches Streifenmuster wegen eines Effekts, das als Interferenz bekannt ist. Die Welle passiert beide Schlitze gleichzeitig, wodurch dahinter zwei neue Wellen entstehen, die miteinander wechselwirken. Aufeinandertreffende Wellenberge verstärken sich, Täler ebenfalls, während ein Wellenberg und ein Tal sich auslöschen (in diesem Fall spricht man von destruktiver Interferenz).

Offenbar legen auch Teilchen dieses wellenartige Verhalten an den Tag. Jedoch nicht immer. Stattet man die Schlitze mit Detektoren aus, die messen, durch welchen Spalt die einzelnen Teilchen fliegen, verschwindet das Interferenzmuster.

Modifiziertes Doppelspalt-Experiment | Stattet man die beiden Schlitze mit Detektoren (D) aus, verändert sich die Wahrscheinlichkeitsverteilung deutlich. Grund dafür könnte sein, dass nun die Teilwahrscheinlichkeiten keine negativen Werte mehr annehmen dürfen.

Fachleute schlossen daraus, dass Quantenobjekte einen wellenartigen Charakter besitzen, Messungen diesen jedoch stören können. In diesem Fall kommt es zu »Dekohärenz«, wodurch die Objekte ihre punktartigen Eigenschaften erhalten. Klingt irgendwie kompliziert? Diese Ansicht teilen viele. Nicht umsonst gibt es zahlreiche verschiedene Deutungen der Quantenmechanik, die versuchen, solche Seltsamkeiten irgendwie loszuwerden. Ich habe im Studium die »Shut up and calculate«-Deutung gelernt: Mach dir keine Gedanken, rechne einfach, denn die Mathematik ist richtig.

Wendet man sich negativen Wahrscheinlichkeiten zu, löst sich das Problem – zumindest für das Doppelspaltexperiment – in Luft auf. Auch hier gilt: Negative Wahrscheinlichkeiten lassen sich nicht beobachten; sie treten nur in Bereichen auf, zu denen wir keinen Zugang haben. Mit diesem erweiterten Rahmen der Wahrscheinlichkeitsrechnung bleibt ein Teilchen immer ein Teilchen. Man braucht das Wellenbild nicht, um das Interferenzmuster zu erklären.

»Die Quantentheorie dreht sich um Information und darum, wie sich Wahrscheinlichkeiten verhalten, wenn Information nicht zugänglich ist«Steven G, Youtuber

Das seltsame Streifenmuster ergibt sich in diesem Fall allein durch negative Wahrscheinlichkeiten. Diese führen dazu, dass die Teilchen manche Stellen des Schirms überhaupt nicht erreichen (das erklärt man sonst mit destruktiver Interferenz von Wellen). Stattet man hingegen die Schlitze mit Detektoren aus, fallen die negativen Wahrscheinlichkeiten weg – schließlich kann man so die Wahrscheinlichkeitsverteilung messen; in diesem Fall dürfen also keine negativen Werte auftreten. Und das sich ergebende Bild entspricht dann dem eines gewöhnlichen punktförmigen Objekts.

Damit eröffnen negative Wahrscheinlichkeiten eine faszinierende neue Sicht auf die Quantenmechanik. In einem wunderbaren Youtube-Video zu dem Thema drückt es Steven G folgendermaßen aus: »Die Quantentheorie dreht sich um Information und darum, wie sich Wahrscheinlichkeiten verhalten, wenn Information nicht zugänglich ist.« Alles, was für diese schöne Deutung nötig ist, ist das Brechen von mathematischen Gesetzen.

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