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Zeitdiagnosen: Weltraumexploration braucht die Gesellschaftswissenschaften

Die neuesten Space-Utopien drohen zur lauen Wiederauflage längst gescheiterter Konzepte zu werden. Gesellschaftswissenschaften, übernehmen Sie!
Bis zu den Sternen!

»New Space« – so lautet der Lockruf 50 Jahre nach dem Apollo-Programm. Raumfahrtagenturen und »Space-Milliardäre« wagen den Sprung vom Weltraumtourismus zur Weltraumexploration. Doch soll es im 21. Jahrhundert um mehr gehen, als um die Neuauflage gigantischer Konfettiparaden, braucht es nicht allein technologische Innovationen und Infrastrukturen. Notwendig wäre vor allem eine neue Stufe der Wissenssynthese. Postdisziplinäres Wissen hilft hierbei, sich von der Idee kontrollierter Labore und dem Wunsch nach regelbarer Idealwelten zu verabschieden.

Wie wäre es, über ein ideales Labor zu verfügen?

Kontrollierte Labore mögen zwar dafür geeignet sein, im Erdorbit Materialversuche zu machen, nicht aber um menschliche Gesellschaft zu simulieren. Wissenserzeugung im Bereich des »Sozialen« findet gerade nicht dort statt, wo in geschlossenen Laboren Kausalmechanismen entdeckt werden. Menschliche Habitate lassen sich nicht »designen« wie ein Weltraumanzug, der funktionieren und zugleich gut aussehen sollte (Elon Musk). Wer Menschliches ergründen will, muss Gesellschaft als offenes Labor verstehen. Inzwischen wird daher von »Reallaboren« gesprochen, in denen komplexe lebensweltliche Probleme experimentell erprobt werden. Reallabore sind keine kontrollierbaren Räume, sondern Systeme mit offenen Rändern. Während im Laborexperiment auf Störungen mit verbesserten Isolationsbedingungen reagiert wird, nutzen Reallaboren Störquellen als Erkenntniswerkzeuge.

»Zeitdiagnosen« sind ein Projekt in Kooperation mit dem Verlag Springer VS. In dieser Kolumne beziehen einmal im Monat wechselnde Experten und Expertinnen aus den Sozial-, Medien- und Politikwissenschaften Stellung zu aktuellen Debatten unserer Zeit.

Problemlösungswissen liegt dabei oftmals außerhalb des eigenen (meist technikzentrierten) Kompetenzbereichs. Zum notwendigen »Knowhow« (Wie funktioniert eine Rakete?) muss sich auch passendes »Knowwhy« gesellen. Der Umgang mit ethischen Werten wird bei der Weltraumexploration daher mindestens ebenso bedeutend sein, wie der Umgang mit Messwerten. Gescheiterte Experimente in künstlichen Habitaten – angefangen von der berühmten Biosphere 2 in der Wüste Arizonas – zeugen davon, wie schnell fehlende Wirklichkeitsnähe unter »kontrollierten« Bedingungen Menschen auf die schiefe Bahn bringen kann. Wer Weltraumexploration will, muss stattdessen wieder zu Versuchsanordnungen jenseits des Labors zurückkehren. Von Kurt Lewin wurde innerhalb der Sozialpsychologie der Begriff des »natürlichen Experiments« eingeführt.

Erstaunlicherweise gab es bereits vor der Einführung des Modebegriffs Reallabor zahlreiche »natürliche« Versuchsanordnungen der Menschheit, aus deren Scheitern sich lernen lässt.

Wie wäre es, in einer idealen Welt zu leben?

Technokraten wünschen sich häufig Welten ohne verwirrende Komplexität, dafür mit klaren Regeln. Immer wieder planten Menschen Gegenentwürfe zu einer als enttäuschend empfundenen Gegenwart. In der Nähe von Bradford wurde 1851 Saltaire als viktorianische Mustersiedlung gegründet. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts siedelten sich Sinnsuchende weltweit in spirituellen Reservaten an. Vertreter der Schwabinger Bohème gründeten um 1900 im Tessin die experimentelle Enklave Monte Verità. Vor 50 Jahren wurde Aurovillle als kosmopolitisches Gesellschaftslabor feierlich eröffnet, um zu beweisen, dass Menschen trotz unterschiedlicher Ethnien, Nationen und Sprachen friedlich zusammenleben können. 1920 kam Henry Ford sogar auf die Idee, mitten im Amazons einen Stadtstaat errichten zu lassen. Fordlândia wurde zum »Meta-Labor der Menschheit«. Und Walt Disney plante in Florida die utopische Stadt Celebration als Sinnbild einer perfekten (irdischen) Gemeinschaft.

Erfolgreiche Utopien benötigen elastische Regeln und einen kleinen Schuss Anarchismus

So unterschiedlich alle Projekte auf den ersten Blick wirken mögen, so auffallend sind doch grundlegende Gemeinsamkeiten und Muster des Scheiterns. Alle Idealwelten basierten auf Regelsystemen, die von den Gründern selbst stammten. Je nach weltanschaulichem Hintergrund rückten also bestimmte Erwartungen an die Bewohner der Menschheitslabore in den Mittelpunkt. Vorsicht ist daher angebracht: Wenn Menschen durch Regelwerke in das Leben von Mitmenschen eingreifen, werden oftmals beklemmende Sozialtechniken real. Dort, wo Regeln allmächtig werden, entstehen Apparaturen der Kontrolle, Mechanismen der Ausbeutung und Werkzeuge der Entfremdung. Visionen werden dann zu Gefängnissen. In Saltaire und Fordlândia waren Alkohol verboten, Frömmigkeit und Fordismus musste geheuchelt werden. In Celebration bestimmten ein 70-seitiges Regelwerk und eine Kontrollagentur über das mustergültige Aussehen von Häusern und Gärten.

Überzogen perfektionistische Idealwelten scheitern früher oder später. Mit einer Portion Schadenfreude verrät ein Chronist von Monte Verità, dass etliche überzeugte Anhänger der Lebensreformbewegung »quasi über Nacht« zu Kennern edler Weine wurden. Sie waren die tägliche Rohkost leid, schlichen sich nachts vom »Berg der Wahrheit« und fanden ihr kleines Glück bei Eselsalami und Rotwein in einer der vielen urigen Grotti genannten Kneipen. Fordlândia endete mit einem Aufstand und Lynchjustiz. Saltaire wurde immerhin UNECSO-Weltkulturerbe. Und Celebration ist wohl die einzige Stadt der Welt, die komplett verkauft wurde, nachdem das Konzept der Idealgemeinschaft glanzlos scheiterte. Das »Soziale« lässt sich nicht in homogenen oder streng regelgeleiteten Räumen nach Prinzipien mechanischer Objektivität, absoluter Herrschaft oder kalkulierender Vernunft (re-)produzieren.

Wie wäre es, wieder echte Utopien zu leben?

Anstatt Standardwelten naiv fortzuschreiben sollte wieder in echte Utopien investiert werden. Erfolgreiche Utopien benötigen elastische Regeln und einen kleinen Schuss Anarchismus, um zu funktionieren. Um Menschen aus der Komfortzone zu locken, sind sie zudem eher auf Verlern- als auf Lernprozesse angewiesen. Das Erlernen neuer Perspektiven muss mit dem Verlernen alter Gewohnheiten einhergehen. Je weiter weg von der Erde, desto wichtiger wird dies werden. Der Philosoph Frank White erforschte den »Overview-Effekt«. Er untersuchte die Erfahrungen von »Deep-Space«-Astronauten (also 24 Astronauten, die den Erdorbit verlassen konnten) und stellte bei ihnen eine kognitive Verschiebung von Grundannahmen über das Zusammenleben von Menschen und den Gedanken der Zivilisation fest. In anderen Worten: Sie waren fähig, zu utopischem Denken.

Weltraumexploration im Kontext von »New Space« wird am Ende von Menschen gemacht. Um erfolgreiche, das heißt, sinnstiftende Weltraumexploration zu betreiben, braucht es daher nicht nur eine Technikdiskussion außerhalb des Akademischen – also öffentliche Wissenschaft. Vielmehr braucht es eine große Wissenssynthese im Sinn eines »Weltgesprächs über Technik« (so schon der Philosoph Friedrich Dessauer).

Mitte der 1980er Jahre veröffentlichte die National Commission on Space in den USA einen Bericht mit dem Titel »Pioneering the Space Frontier«. Dafür wurden erstmals partizipative Verfahren erprobt und Bürgerforen abgehalten, um den Grad »öffentlicher« Anteilnahme an der Wissensproduktion zu erhöhen. Dieses Dokument zeigt, wohin der Weg führt, wenn technologische Szenarien einmal nicht im Mittelpunkt stehen. Benannt wurden vielmehr zentrale sinnstiftende Werte, die das zukünftige Weltraumprogramm leiten sollten. Vor allem aber formulierten die Autoren unter dem Schlagwort der »großen Synthese« ein äußerst progressives Wissenschaftsverständnis. Um das große Menschheitsziel – die Besiedlung des Weltraums – zu erreichen, sollten so viele Zweige der Wissenschaft wie möglich zu einem »Wissensfundus« integriert werden. Besonders spannend ist jedoch aus heutiger Sicht, welche Wissenschaften dabei gestärkt werden sollten. Die Naturwissenschaften hatten zwar die Aufgabe, für neue Technologien zu sorgen, gleichwohl sollten gerade die Gesellschaftswissenschaften die Führungsrolle im Weltraumprogramm einnehmen!

So frech es zunächst klingen mag: Die Gesellschaftswissenschaften und der Konjunktiv werden für eine erfolgreiche Kolonialisierung des Weltraums viel entscheidender sein als die Naturwissenschaften und der zweite Hauptsatz der Thermodynamik. Utopien sind willkommen. Aber wer Kolonien auf Mond und Mars oder in Zukunft gar multiplanetarische Kolonien und Zivilisationen etablieren möchte, sollte zunächst aus den Lektionen der Vergangenheit lernen. Weltraumexploration wird nur dann erfolgreich sein, wenn Problemlösungskompetenz integrativ anstatt distinktiv gedacht wird. Und wenn sich die Perfektionisten daran erinnern, dass Regeln und Formalismus auch etwas zerstören: den Individualfall. Es wäre gut, hochtrabende technologische Utopien mit einem Schuss praktischer Lebensweisheit zu verdünnen, Regeln elastischer zu denken und auf Menschheitsexperimente unter kontrollierten Bedingungen zu verzichten. Das wäre dann wirklich eine ideale und vor allem lebenswerte Welt.

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