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Warkus' Welt: Wenn alles schwingt

Esoterikfans wittern überall "Energie" und "Schwingungen". Unser Kolumnist Matthias Warkus erklärt den philosophischen Irrtum, der dahintersteckt.
Tibetische Kristallschale

Wenn Leute über Esoterik sprechen, geht es oft um Schwingungen. Vom "heilenden Schwingungsniveau" der Natur ist die Rede, man kann sich einen – selbstverständlich völlig wirkungslosen – "Schwingungsverstärker" als Schlüsselanhänger kaufen. Auf einer (für Szeneverhältnisse ungewöhnlich gut verständlichen) Esoterikseite heißt es, Materie schwinge beispielsweise auf der niedersten Frequenz, Geistiges und Spirituelles auf einer höheren. Da die menschlichen Sinne nun bekanntermaßen nur bestimmte Frequenzbereiche wahrnehmen könnten, sei das Spirituelle für uns unhörbar und unsichtbar.

Etwas pragmatischer, aber im selben Bereich angesiedelt, ist eine Frage, die ich vor einigen Jahren einmal in einem Forum lesen konnte: Hörbarer Schall sei ja in einem recht niedrigen Frequenzbereich zu Hause (etwa 16 bis 20 000 Hertz, also Schwingungen pro Sekunde), sichtbares Licht in einem viel höheren (rund 400 bis 790 Terahertz). Wo ist nun der Übergang? Woher "weiß" das Universum, wann es aus den Schwingungen Schall und wann Licht machen soll?

Wer minimale schulphysikalische Kenntnisse hat, weiß natürlich, dass die Frage Unsinn ist. Bei Licht schwingen elektrische und magnetische Felder, bei Schall Moleküle in der Luft. Es gibt auch niederfrequente elektromagnetische Schwingungen, die dann Radio- oder Funkwellen heißen. Unser Forenfrager hat da etwas verwechselt. Aber was?

Ein ganz ähnliches Phänomen, ebenfalls verbreitet bei Anhängerinnen und Anhängern esoterischer Lehren, zeigt sich, wenn von "Energie" die Rede ist. Ist nicht alles Energie? Haben wir nicht alle einmal in der Schule gelernt, dass Energie nie verloren geht und nur ineinander umgewandelt werden kann? Dass es ganz verschiedene Arten von Energie gibt, aber letztlich sogar Materie zu Energie werden kann? Was liegt näher, als die Welt als aus Energie zusammengesetzt zu betrachten?

Bei näherem Hinsehen erkennen wir, dass "Schwingung" und "Energie", so wie die Ausdrücke nach heutigem wissenschaftlichem Stand definiert sind, keine mysteriösen, grundlegenden Baustoffe des Universums bezeichnen, sondern Merkmale von Systemen. Eine Schwingung ist da, wo die Änderung einer Größe einen rückstellenden Effekt auf dieselbe Größe hat; Energie ist das, hinsichtlich dessen Erhaltung bestimmte Übergänge in einem System beschrieben werden können.

Mehr als Energie

Man kann daher die unterschiedlichsten Zustände von Gegenständen (zum Beispiel komprimiert zu sein, sich in einer Höhe über einer gedachten Linie zu befinden oder unter Sauerstoffzufuhr zu brennen) mit Hilfe des Energiebegriffs in einer bestimmten Hinsicht äquivalent setzen. Ebenso kann man die unterschiedlichsten Anordnungen von Gegenständen (ein Federpendel, ein Fadenpendel, einen elektrischen Schwingkreis, ein Atom in einem Kristallgitter) als in Schwingung beschreiben. Dass wir aber etwas als etwas in einer bestimmten Hinsicht beschreiben können, heißt noch nicht, dass es das auch ist.

Bei dieser Unterscheidung wird es nun, wie so oft, wenn es darum geht, was etwas eigentlich ist, philosophisch relevant. Das Nachdenken über diesen Unterschied ist alt, aber auf den Punkt gebracht hat es zum Beispiel Ernst Cassirer (1874–1945), einer der wichtigsten deutschen Philosophen des 20. Jahrhunderts, in seiner Schrift "Substanzbegriff und Funktionsbegriff" von 1910. Energie oder Schwingung sind eben Funktionsbegriffe: Sie haben mit der Beziehung zu tun, in die sich bestimmte Systeme zueinander setzen lassen; nicht mit einer Substanz, auf der die Existenz dieser Systeme beruhen würde.

Dass wir so gut wie alles irgendwie als in Schwingung oder Energie enthaltend beschreiben können, heißt also nicht, dass alles nur aus Schwingungen oder Energie bestünde. Auch umgekehrt wird ein Schuh daraus: Wenn wir etwa gerne sagen, alles, was existiere, bestehe aus Elementarteilchen – heißt das nicht einfach nur, dass wir alles, was existiert, als aus Elementarteilchen bestehend beschreiben können? Letztlich gilt das dann nicht nur für naturwissenschaftliche, sondern auch für alltägliche Begriffe. Gibt es etwas, aus dem alles besteht? Besteht überhaupt irgendetwas aus irgendetwas? Ist nicht alles nur ein großes Inbeziehungsetzen von Beschreibungen?

Auch künftig wird uns die Frage, was es heißt, dass etwas ist oder dass etwas aus etwas besteht, immer wieder beschäftigen. Die Unterdisziplin der Philosophie, die sich damit befasst, heißt Ontologie oder allgemeine Metaphysik – und es ist bittere Ironie, dass in manchen Buchhandlungen ausgerechnet die Esoterikbücher mit ihren spirituellen Schwingungen, Mondphasen, Energiesteinen und Krafttieren unter der Überschrift "Metaphysik" stehen. Denn genau die kritischen Fragen, die uns in der Metaphysik beschäftigen, will dort niemand ernsthaft beantworten.

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