Zeitdiagnosen: Wenn die Ursache der Krise als Lösung verpackt wird
In seiner historischen Studie »Kollaps« von 2005 beschäftigte sich der US-Biogeograf Jared Diamond mit der Frage, warum Gesellschaften untergehen oder überleben. Seine zentrale These: In den meisten Fällen liegt es nicht am Problem selbst, sondern an der Art und Weise, wie eine Gesellschaft darauf reagiert. Auf unsere heutige Zeit übertragen hieße das: Die eigentliche Gefahr sind nicht der Klimawandel oder die Corona-Krise. Es sind die kulturellen und sozialen Verhältnisse, die eine geeignete Reaktion verhindern.
Nachhaltig ist eine Entwicklung, die sich gegen solche evolutionäre Sackgassen richtet. Bei dieser Definition ist Nachhaltigkeit eine Notwendigkeit. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts entstand der moderne Nachhaltigkeitsbegriff als Reaktion auf die erste große Krise, die die europäische Wirtschaft lahmlegte. Was damals die Holzknappheit war, ist heute eine »multiple Krise« (Ulrich Brand). Wie sollen wir damit umgehen?
Die britische Premierministerin Margaret Thatcher prägte in den 1980er Jahren das eigentliche Motto der neoliberalen Globalisierung: »There is no alternative.« Es gibt keine Alternative zu Liberalisierung, Privatisierung, Kapitalismus – als ob eine profit- statt gemeinwohlorientierte Ökonomie unser Schicksal sei. Eine solche Monokultur ist für Krisen jedoch besonders anfällig.
In der Corona-Krise rächt es sich, wenn Länder ihr Gemeinwesen abgebaut und privatisiert haben, Gesundheitswesen inbegriffen. Für die Resilienz von sozialen Systemen ist die kulturelle Vielfalt (zum Beispiel eine plurale Ökonomik) genauso wichtig, wie es die Biodiversität für Ökosysteme ist. Kulturelle Vielfalt bietet ein breiteres Spektrum an Lösungsoptionen statt des immer gleichen Mantras von Wachstum und Privatisierung. Nur dort, wo verschiedene Perspektiven in einen Dialog auf Augenhöhe treten können, sind jene individuellen und kollektiven Lernprozesse möglich, die es braucht, um evolutionäre Sackgassen zu meiden, so Jürgen Habermas.
Reichtum als Vollkaskoversicherung
Zivilisationen geraten auch dann in Bedrängnis, wenn die soziale Ungleichheit in ihnen ausgeprägt ist. Zu diesem Ergebnis kam unter anderem eine Studie der amerikanischen Wissenschaftler Safa Motesharrei, Eugenia Kalnay und Jorge Rivas im Jahr 2014. Auf Grund ihres Wohlstands sind die Eliten viel später als die Massen von den Auswirkungen schwerer Krisen betroffen, deshalb reden sie sich noch im Angesicht der Katastrophe ein, man könne so weitermachen wie bisher.
Banken und Autoindustrie müssen sich vor Krisen kaum fürchten, denn sie gelten als »systemrelevant«: Sie sind »too big to fail«, der Staat springt am Ende immer ein. Doch wer sind die Leidtragenden der Sparmaßnahmen, wenn die Staatsverschuldung wieder wächst? Zu oft werden die Kosten sozialisiert und die Profite privatisiert. Wer die Probleme verursacht, muss selten für die gesellschaftlichen Folgen selbst haften.
Hingegen wird die private Anhäufung von Reichtum als Vollkaskoversicherung gegen jede Krise erlebt, im schlimmsten Fall kann man eben noch wegziehen. Das trügerische Sicherheitsgefühl steigert die Risikobereitschaft der Entscheidungsträger zusätzlich.
Das Virus führt uns unsere Begrenztheit vor Augen: Wir haben doch nicht alles unter Kontrolle
Darum kann es keine nachhaltige Gesellschaftsentwicklung geben, die die soziale Gerechtigkeit außen vor lässt. Doch nach der Corona-Krise droht wieder das Motto zu gelten: Wirtschaftswachstum über alles! Wo eine Ideologie herrscht, tendieren Menschen eben dazu, die Problemursachen als Lösung zu verpacken. Dabei ist das »Wirtschaftswachstum« – in unserer Gesellschaft oberstes Staatsziel, ein Dogma, ein Allheilmittel – nur eine Illusion auf den Wohlstandsinseln: Sie lässt sich gerade so lange aufrechterhalten, wie man die ökologischen und sozialen Kosten des Wachstums nicht in der Rechnung berücksichtigt. Auch der Mythos vom unaufhaltsamen technischen Fortschritt fördert eine gefährliche Selbstüberschätzung. Der Glaube daran dient vor allem dazu, sich am bestehenden System festzuklammern. Diesel und Benziner durch Elektroautos zu ersetzen, ist keine Lösung der Klimakrise, sondern lediglich eine Verlagerung des Problems.
»Gutes Leben« speist sich nicht aus Wirtschaftswachstum
Nachhaltigkeit stellt auch die Frage nach dem »guten Leben«. Ist es wirklich mit Wirtschaftswachstum und Massenkonsum gleichzusetzen? Wenn es so wäre, müssten die Amerikaner die glücklichsten Menschen sein, so ist es aber nicht. Zentral ist jedoch hier die Frage, wie der Reichtum verteilt wird. In einer Atmosphäre des Vertrauens und der Großzügigkeit zahlen Bürgerinnen und Bürger lieber mehr Steuern, um ein starkes Gemeinwesen zu ermöglichen; sie kooperieren lieber, statt zu konkurrieren; sie teilen mehr miteinander, statt nur zu besitzen. Menschen sind dort tendenziell glücklicher und gesünder, wo sozioökonomische Ungleichheiten nicht so ausgeprägt sind.
Es kann kein gutes Leben auf Kosten anderer geben. Kein gutes Leben kann fremdbestimmt sein. Deshalb ist das gute Leben kein Zustand, sondern etwas, was demokratisch und inklusiv ständig verhandelt werden will. Schon in einer kleinen Nachbarschaft herrschen unterschiedliche Vorstellungen vom guten Leben. Demokratie ist die Möglichkeit eines friedlichen Zusammenlebens in der Vielfalt. Gleichzeitig sind viele Probleme der Nachhaltigkeit Probleme der demokratischen Organisation: Wer macht die Entwicklung für wen? Wer definiert Wohlstand für wen? Wie wäre es, wenn die Hierarchie der Institutionen einmal von unten nach oben verliefe statt umgekehrt?
Und schließlich ist ein gutes Leben eines, das im Einklang mit der äußeren und der inneren Natur des Menschen steht. Denn unter dem Wirtschaftswachstum und der Beschleunigung leidet nicht nur die Erde, sondern auch der Mensch selbst, das zeigt die Häufung von Diagnosen wie Depression oder Burnout. Deshalb ist eine Entwicklung nachhaltig, wenn sie dem menschlichen Maß entspricht. Von der Kolonialzeit bis zur neoliberalen Globalisierung haben wir unsere »Hochkultur« der ganzen Welt aufgezwungen. Gutes Leben findet aber auch in den Tropenwäldern Lateinamerikas statt, wo indigene Völker seit Jahrhunderten im Gleichgewicht mit ihrem Ökosystem leben. Wie wäre es, einmal von den Kulturen zu lernen, die weder die Atombombe erfunden noch den Klimawandel verursacht haben?
Die Corona-Krise als Chance?
Das Virus führt uns unsere eigene Begrenztheit und unsere Menschlichkeit vor Augen: Wir haben doch nicht alles unter Kontrolle. Und dies sogar in einer hochindustrialisierten Region wie der Lombardei, wo das Coronavirus das »Ebola der Reichen« genannt wird. Es kam mit dem Flugzeug in die reichen Länder, für das Virus waren die Grenzen eben offen. Nun wird der Flugzeugverkehr stillgelegt ,und die Luft über Europa ist sauberer. Diese Krise könnte doch eine Chance sein. Die Menschen erfahren gerade, was überflüssig ist, und was überlebenswichtig. Plötzlich genießen der Bauer und die Krankenschwester mehr Wertschätzung als der Finanzanleger. Der Gesundheit der Menschen wird ein höherer Stellenwert beigemessen als dem Wirtschaftswachstum oder der »schwarzen Null«. Dies sollte auch für das Klima und die Erde gelten.
Unternehmen können sich auf internationale Märkte nicht mehr verlassen. Regionalisierung, kurze Lieferketten, eine Ökonomie der Nähe? Das hat doch auch Vorteile. Nach der Finanzkrise 2008 hat die Europäische Zentralbank vor allem Privatinvestoren mit Milliarden gestützt, nun gehören ihnen Krankenhäuser und zahlreiche Immobilien in den Städten. Dieses Mal sollten die Milliarden ins Gemeinwesen fließen, denn vor allem das macht unsere Gesellschaft krisenresistenter – und dient allen Menschen gleichermaßen.
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