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Die fabelhafte Welt der Mathematik: Jagd auf die eindrucksvollsten Primzahlen

12345678910987654321: Das ist eine der einprägsamsten Primzahlen. Doch gibt es noch mehr von dieser Art? Solche Fragen treiben Primzahlfans seit Jahrzehnten um.
Viele verschiedene Zahlen
Viele Menschen denken, Mathematik sei kompliziert und öde. In dieser Serie möchten wir das widerlegen – und stellen unsere liebsten Gegenbeispiele vor: von schlechtem Wetter über magische Verdopplungen hin zu Steuertricks. Die Artikel können Sie hier lesen oder als Buch kaufen.

Eine meiner liebsten Anekdoten zu Primzahlen betrifft Alexander Grothendieck – einen der genialsten Mathematiker des 20. Jahrhunderts. Einer Erzählung zufolge wurde er einmal während eines Gesprächs gebeten, eine Primzahl zu nennen. Diese Zahlen, die nur durch eins und sich selbst teilbar sind, bilden sozusagen die Atome der Zahlentheorie und faszinieren die Menschheit seit Jahrtausenden. »Ich soll eine bestimmte Primzahl als Beispiel nennen?«, fragte Grothendieck. Ja, lautete die Antwort. »Alles klar, 57.« Seither ist die 57 in Nerdkreisen auch als Grothendieck-»Primzahl« bekannt, auch wenn sie natürlich keine Primzahl ist, da sie durch drei teilbar ist.

Einen spannenderen Ausgang nahm hingegen ein Gespräch, das der Mathematiker Neil Sloane während eines Essen zwischen zwei seiner Kollegen, Armand Borel und Freeman Dyson, mitbekam. Auch hier bat Borel seinen Gesprächspartner Dyson, eine Primzahl zu nennen. Anders als Grothendieck lieferte Dyson wirklich eine Zahl, die nur durch eins und sich selbst teilbar ist: 231−1. Das stellte Borel aber nicht zufrieden. Er wollte eine wirklich große Primzahl, die aus vielen Ziffern besteht, die Dyson aber aufsagen sollte. Nach kurzem Überlegen sagte dieser: »12345678910987654321.«

Auch dabei handelt es sich tatsächlich um eine Primzahl. Sie besteht aus 20 Ziffern und ist wirklich einfach zu merken: Man zählt bis 10 und zählt dann wieder rückwärts, bis man bei 1 angelangt ist. Diese Primzahl war schon lange bekannt. Aber es war unklar, ob es noch weitere Primzahlen der Form 123...(n-1)n(n-1)...321 gibt – also Primzahlen, die bis zur Zahl n aufsteigen und dann wieder absteigen. Sloane bezeichnet sie als »memorable« Primzahlen. Für n = 10 erhält man die von Dyson genannte Zahl. Aber existieren auch andere n, für die das Ergebnis eine Primzahl ist? Über all das unterhielten sich Dyson und Borel wohl angeregt.

Sloane, der diesem Gespräch lauschte, zeigte sich besonders interessiert. Der Mathematiker erstellte 1964 eine Datenbank, in der Zahlenfolgen gesammelt sind: In der Online Encyclopedia of integer sequences (kurz OEIS) tragen Fachleute allerlei Fakten zu Zahlenfolgen zusammen und tauschen sich darüber aus. Sloane selbst beteiligte sich gern an den Diskussionen und stieß auch immer wieder Forschungsfragen an. Diese sollten schließlich zur Jagd auf memorable und ähnliche Primzahlen führen. Von einigen davon fehlt bis heute jede Spur, obwohl es unendlich viele geben sollte.

Es könnte unendlich viele memorable Primzahlen geben

Der indische Ingenieur Shyam Sunder Gupta, der sich seit seiner Kindheit für Primzahlen begeistert, fand 2015 heraus, dass die Zahl 123...(n-1)n(n-1)...321 für n = 2446 eine Primzahl ist. Das veröffentlichte er nicht in einer mathematischen Fachzeitschrift, sondern gab das Ergebnis über eine Mailingliste bekannt, die in der Zahlentheorie noch immer für Entdeckungen dieser Art genutzt wird. Die sich daraus ergebende Primzahl hat 17 350 Ziffern.

»Da Primzahlen in der sicheren Kommunikation sehr nützlich sind, können solche leicht zu merkende große Primzahlen in der Kryptografie von großem Vorteil sein«, sagt Gupta. »Deshalb begeistere ich mich für diese Art von Primzahlen.«

Ob es weitere memorable Primzahlen gibt, ist bislang nicht bekannt. Es wurden alle Fälle bis n = 60 000 überprüft; außer 10 und 2446 wurden keine Primzahlen gefunden. Heißt das, dass vielleicht nur diese zwei memorablen Primzahlen existieren?

Das bezweifeln die meisten Mathematiker, auch wenn sie es nicht beweisen können. Es gibt Argumente dafür, dass es eigentlich unendlich viele Primzahlen dieser Art geben sollte. Solche »heuristischen« Argumente gehen davon aus, dass Primzahlen zufällig über den Zahlenstrahl verteilt sind, und ermitteln, wie wahrscheinlich es demzufolge ist, dass eine bestimmte Art von Zahl (in diesem Fall ein Palindrom 123...321) eine Primzahl ist. Solche Überlegungen sind zwar kein unumstößlicher Beweis, aber sie liefern zumindest einen Anhaltspunkt, der als Ansporn für weitere Nachforschungen dienen kann.

Gupta jedenfalls ist davon überzeugt, dass es unendlich viele solcher Zahlen geben sollte, auch wenn sie rar sind. Die von ihm entdeckte zweite memorable Primzahl veranlasste Sloane, sich Gedanken um eine ähnliche Form von Zahl zu machen. Am 29. September 2015, etwa zwei Monate nach Guptas Ergebnis, schrieb er folgenden Aufruf in die Mailingliste:

»Betreff: Schönes offenes Problem

An die Zahlentheorieliste,
betrachten Sie die Folge mit dem n-ten Term gleich der Verkettung der Dezimalzahlen 1234...n (https://oeis.org/A007908). Wann taucht die erste Primzahl auf? ...
Wenn Sie bei dieser Suche helfen möchten, können Sie einen Kommentar in A007908 hinterlassen, in dem Sie sagen, dass es unter den Zahlen X bis Y keine solchen Primzahlen gibt oder natürlich dass es für n = Z eine (wahrscheinliche) Primzahl ergibt, was ziemlich spannend wäre.«

Sloane wollte wissen, ob jemand eine Primzahl der Form 123...(n-2)(n-1)n finden konnte. Klar ist, dass eine solche Zahl mit keiner geraden Ziffer oder einer 5 enden kann – was schon 60 Prozent aller n von vornherein ausschließt. Trotzdem sprechen auch in diesem Fall heuristische Argumente dafür, dass es unendlich viele solcher Primzahlen geben müsste.

Schnell schmissen einige Primzahl-Enthusiasten ihre Rechner an und begannen, systematisch nach einer »Smarandache-Primzahl«, wie diese Zahlen genannt werden, zu suchen. Nachdem selbst bei fünfstelligen Werten von n keine Primzahlen auftauchten, wandte sich Sloane an das Team von GIMP (Great Internet Mersenne Prime Search). Dabei handelt es sich um ein kollaboratives Projekt, bei denen Freiwillige ihre Rechenleistung zur Verfügung stellen, um nach Primzahlen zu suchen. Eine Gruppe von GIMP fand Gefallen an Sloanes Idee und unter dem Namen Great Smarandache PRPrime search wurden fortan Smarandache-Primzahlen gesucht. Doch nachdem bis n = 106 keine Primzahl auftauchte, wurde das Projekt wieder abgebrochen.

Auf den ersten Blick schien die fehlende Ausbeute überraschend: Bricht man die Smarandache-Zahlen vorzeitig ab (indem man für n = 10 statt 12345678910 etwa die Zahl 1234567891 betrachtet), stößt man schnell auf Primzahlen. 1234567891 ist zum Beispiel eine Primzahl. Doch tatsächlich bringt das vollständige Ausschreiben aller Ziffern 123...n Einschränkungen mit sich: Wie bereits erwähnt, fallen allein 60 Prozent der Kandidaten aus, da alle Zahlen, die auf 0,2,4,5,6,8 enden, mehr als zwei Teiler besitzen.

»Ich würde gerne die Welt ermutigen weiterzumachen und diese fehlende Primzahl zu finden«Neil Sloane, Mathematiker

Berücksichtigt man das – sowie weitere Einschränkungen wie die Teilbarkeit durch 3 – lässt sich abschätzen, dass unter allen Zahlen der Form 123...n von n = 1 bis n =  106 keine Primzahl auftauchen sollte. Das legt zumindest eine Berechnung des Informatikers Ernst Mayer nahe. Demnach beträgt die erwartete Anzahl an Smarandache-Primzahlen bis zu n = 106 etwa 0,6. »Ich würde gern die Welt ermutigen weiterzumachen und diese fehlende Primzahl zu finden«, sagte Sloane in einem Numberphile-Video.

Auch wenn es an dieser Front kaum Fortschritte gab, animierte Sloane die Menschen dazu, neugierig zu bleiben. So ermutigte er 2015 in der Mailingliste einen seiner Kollegen, nach einer anderen Art von Primzahl zu suchen:

@Serge-
Wenn man die Zahlen in absteigender Reihenfolge schreibt, 1, 21, 321, 4321, 54321, ..., n(n-1)... 321“ (das ist A000422 im OEIS), dann sind zwei Primzahlen bekannt, für n = 82 und 37765 . Dies ist A176024, aber es hat nur zwei Terme. Kannst du einen weiteren finden? Das könnte ein Kinderspiel für Sie sein!

Mit freundlichen Grüßen,
Neil

Der Physiker Serge Batalov reagierte mit einem beherzten »Challenge accepted!«. Ziel war es also, umgekehrte Smarandache-Primzahlen zu finden, bei denen die Zahl mit n startet und sich dann zu 1 hinunterarbeitet: n(n-1)...321. In diesem Fall enden zwangsläufig alle Werte auf 1, so dass nicht von vornherein 60 Prozent aller Zahlen als Primzahl-Kandidaten wegfallen.

Als Sloane seinen Aufruf schrieb, gab es bereits zwei bekannte Beispiele für umgekehrte Smarandache-Primzahlen: 82 81 80 79...321 und 37765 37764...54321. Batalov, der viele Erkenntnisse zu ähnlichen Primzahl-Problemen beigetragen hatte, graste verschiedene Werte von n ab, wurde aber nicht fündig. Auch Gupta hat sich bei der Suche schon eingebracht, aber eine dritte umgekehrte Smarandache-Primzahl wurde bislang noch nicht gefunden. 2023 gab der Softwareentwickler Tyler Busby an, dass n mindestens 84 300 betragen müsse, damit n(n-1)...321 eine Primzahl ist.

Wie und ob die Jagd weitergehen wird, ist noch unklar. Es sind meist Hobbymathematiker, die sich daran beteiligen – und nicht professionelle Zahlentheoretiker. Denn Primzahlen dieser Art bringen zunächst nicht unmittelbar eine neue mathematische Erkenntnis. Trotzdem gibt Sloane nicht auf. Trotz seines hohen Alters streut er weiterhin seine Begeisterung für Mathematik und Zahlen und motiviert die Menschen dazu, ebenfalls Spaß daran zu haben. Gupta braucht er jedenfalls nicht mehr zu überzeugen: »Ich suche immer noch nach allen Arten von großen Primzahlen, die leicht zu merken sind«, sagt er. Und ab und zu wird er auch fündig.

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