Coronavirus: Wer immer auf 180 ist, braucht nicht mehr zu denken
Was den Umgang mit schwer kalkulierbaren Risiken angeht, scheint die Menschheit in zwei Teile zu zerfallen. Die einen werden von Panik ergriffen, stürmen für den Katastrophenfall den Supermarkt und wollen nur ja keinen fatalen Fehler machen (Hände schütteln, den Bus nehmen? Purer Wahnsinn!). Die anderen dagegen busseln trotz bislang mehr als 130 bekannten Coronavirus-Infektionen in Deutschland trotzig weiter, erfreuen sich der leeren Verkehrsmittel und Geschäfte und lassen sich nicht aus der Ruhe bringen, wenn Schulen schließen, Fußballspiele vor leeren Rängen stattfinden oder die Internationale Tourismusbörse wegen Sars-CoV-2 abgesagt wird. Warum reagieren Menschen so unterschiedlich? Und welche Haltung ist besser?
Die zweite Frage lässt sich leichter beantworten: keine von beiden! Denn sowohl Panik als auch Ignoranz sind schlechte Ratgeber. Die eine lässt zweifellos vorhandene Risiken riesengroß erscheinen, die andere macht blind dafür. Dass es zwischen Katastrophisieren und Halsstarrigkeit keine Alternative gäbe, ist allerdings eine Illusion. Wir können anerkennen, dass der Covid-19-Erreger auf seiner Reise um die Welt ist, ohne deshalb in Endzeitstimmung zu geraten. Oder demonstrativ unbeeindruckt tun.
Eine Pandemie ist schlimm und besonders für alte oder geschwächte Menschen eine Gefahr. Zumal an den Folgen des neuen Coronavirus mehr von ihnen sterben als an der üblichen Grippe. Das ist der Grund für die aktuellen Vorsichtsmaßnahmen. Aber deshalb muss man keine Supermärkte und Apotheken leer kaufen und das öffentliche Leben zum Erliegen bringen. So richtig es ist, enge Menschenaufläufe eine Weile zu meiden und sich noch öfter als sonst die Hände zu waschen; ebenso wichtig ist es, besonnen zu bleiben. Achtsamkeit tut mehr denn je not.
Die einzige Chance: Von Fall zu Fall abwägen und kalkuliert Risiken eingehen
Was die erste Frage betrifft: Womöglich trennt beide Gruppen vor allem die Toleranz gegenüber Unsicherheit. In einer Studie von Psychologen der University of Minnesota sollten rund 100 Probanden bei einem Computerspiel einem Farmer helfen, aufs Feld zu kommen, bevor die Raben seine Saat fressen. Es gab einen kurzen, gefahrvollen Weg sowie einen langen, sicheren. Symbole zeigten zudem das Risiko an, dass man auf der direkten Route nicht durchkam. Das Problem: Stur den Umweg zu nehmen, würde viel zu lange dauern. Der Farmer käme zwar sicher ans Ziel, doch die Saat wäre zerstört. Die einzige Chance: von Fall zu Fall abwägen und kalkuliert Risiken eingehen.
Wie sich zeigte, waren Teilnehmer mit erhöhter Ängstlichkeit dazu viel schlechter in der Lage. Kein Wunder, neigen ängstliche Menschen doch dazu, Risiken überzubewerten und zu generalisieren. Aber auch ein zweiter Faktor spielte eine Rolle: Intoleranz gegenüber Unsicherheit. Wer in einem entsprechenden Fragebogen hohe Werte erzielte, ging selbst dann auf Nummer sicher, wenn es gar nichts brachte, und geriet dazu vermehrt in Stress.
Der emotionale Aufruhr in Sachen Corona hat dabei einen scheinbar paradoxen Effekt: Er wirkt gewissermaßen entlastend. Faktenresistente Besorgnis befreit von der Pflicht, jeweils neu zu überlegen, welche Maßnahmen vernünftig und angemessen sind. Wer immer auf 180 ist, braucht nicht mehr nachzudenken.
Dies erklärt zwar nicht, woher die moderne Unsicherheit kommt, die so viele sonderbare Blüten treibt – von Helikoptereltern bis zu Impfskeptikern und Homöopathie-Fans. Doch es mahnt uns einmal mehr, nicht in kopflosen Aktionismus zu verfallen. Bleibt zu hoffen, dass sich auch die Verantwortlichen in Politik, Gesundheitswesen und Behörden davon nicht anstecken lassen. Das wäre die weit bedrohlichere Pandemie.
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