Freistetters Formelwelt: Leben und nicht leben lassen
Mathematische Gleichungen sind nüchtern. Sie müssen es sein, denn die Mathematik basiert auf den streng objektiven Regeln der Logik. Emotionen haben in Formeln nichts zu suchen – aber Emotionen können entstehen, wenn man sich mit den Ergebnissen der Berechnungen beschäftigt. Ein sehr eindringliches Beispiel dafür ist diese Gleichung:
Sie basiert auf der Arbeit »Quantifying the human cost of global warming«, die Ende Mai 2023 im Fachmagazin »Nature« erschienen ist. Im Text des Fachartikels ist die Formel nicht zu finden, doch sie lässt sich aus den dort enthaltenen Informationen konstruieren. Und es ist durchaus möglich, dass die Autorinnen und Autoren des Artikels diese Informationen absichtlich nicht in Form einer mathematischen Gleichung präsentiert haben. Denn die Formel hat schwer wiegende Konsequenzen – und die Nüchternheit der formalen Symbole würde es einfacher machen, sie auszublenden. Um das zu verstehen, muss man sich zuerst einmal den Inhalt der Arbeit genauer ansehen.
Wir alle wissen, dass die Klimakrise Folgen haben wird. Ein Teil der Klimaforschung besteht darin, diese Auswirkungen zu quantifizieren, wobei als Maßzahl oft Geld verwendet wird: Wie viel wird uns das alles kosten? Wenn es um Schäden oder neu zu errichtende Infrastruktur geht, lässt sich das recht gut abschätzen. Aber wie quantifiziert man das Leben eines Menschen? Hier mit Geld als Metrik zu arbeiten, wirft nicht nur ethische, sondern auch praktische Fragen auf; zum Beispiel, wenn die Auswirkungen auf reiche Menschen überbewertet werden, weil sie ja mehr Geld verlieren können als arme.
Alle Folgen seiner wöchentlichen Kolumne, die immer sonntags erscheint, finden Sie hier.
Deswegen haben die Autoren und Autorinnen einen anderen Ansatz gewählt. Ausgehend von historischen Daten haben sie bestimmt, in welchem Temperaturbereich der Großteil der Menschheit bisher gelebt hat. Diese »ökologische Nische« wird sich durch die Klimakrise verschieben und mehr Menschen als jetzt werden künftig außerhalb davon leben (müssen). Wenn wir zum Beispiel die aktuellen Klimaschutzmaßnahmen in die Zukunft fortschreiben, lassen sich daraus die künftigen Treibhausgasemissionen und damit das Ausmaß der globalen Erwärmung modellieren. Ende des Jahrhunderts wird sich die globale Temperatur unter dieser Annahme um 2,7 Grad Celsius erhöht haben. In diesem Fall werden 3,7 Milliarden Menschen nicht mehr in der ökologischen Nische leben, wobei 2 Milliarden davon Temperaturen ausgesetzt werden, die im Jahresmittel über 29 Grad liegen.
Unser Handeln beeinflusst unmittelbar eine Person aus der nächsten Generation
Sehr viel deutlicher ist aber die Information, die der obigen Formel zu Grunde liegt: Pro 460 Tonnen Treibhausgasemissionen wird Ende des Jahrhunderts eine zusätzliche Person der beispiellosen Jahresmitteltemperatur von mehr als 29 Grad ausgesetzt sein. Wenn man zudem berücksichtigt, dass die globalen Pro-Kopf-Emissionen (Ep) bei 1,8 Tonnen pro Jahr und die globale Lebenserwartung (ΔT) bei 72,6 Jahren liegen, kann man mit der Formel die Zahl N zu zirka 3,5 berechnen.
»N = 3,5« sieht harmlos aus, bedeutet allerdings, dass drei bis vier Menschen der Gegenwart in ihrem Leben so viel Treibhausgase freisetzen, dass ein Mensch der Zukunft einer gefährlichen Durchschnittstemperatur von mehr als 29 Grad ausgesetzt ist. Nimmt man nicht den weltweiten Mittelwert der Pro-Kopf-Emissionen, sondern den in der EU, dann reichen auch schon 2,7 durchschnittliche EU-Bürger, um einen Menschen der Zukunft zu gefährden.
Diese Art der Quantifizierung der Auswirkungen der Klimakrise zeigt sehr viel eindringlicher, welche Folgen unser Handeln hat. Wir sind direkt dafür verantwortlich, welches Leben die Menschen in Zukunft führen (können). Und diese Menschen sind nicht irgendwer: Das Ende des Jahrhunderts ist nur noch rund 70 Jahre entfernt. Die Kinder der Gegenwart werden mit dem leben müssen, was wir heute mit der Welt anstellen.
Schreiben Sie uns!
1 Beitrag anzeigen