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Sex matters: Wenn es nur noch darum geht, schwanger zu werden

Ein Kinderwunsch verändert das Sexualleben, sagt der Sexualtherapeut Carsten Müller. Er erklärt, wie Paare trotzdem entspannt bleiben. Eine Kolumne.
Ein Kalender, in dem die fruchtbaren Tage und der Zeitpunkt der Ovulation eingezeichnet sind
Wenn der Sex nach Terminkalender stattfindet, bleibt die Lust schonmal auf der Strecke. (Symbolbild)

»Wir wollen schwanger werden, aber seit einigen Wochen hat mein Mann immer wieder Erektionsprobleme. Sex ist nur noch Stress. Für uns beide. Dabei wünschen wir uns so sehr ein Baby. Wir haben vor einem Jahr geheiratet und ein Haus gekauft. Beruflich läuft es gut, irgendwie fehlt jetzt nur noch das Kind. Wir haben es uns viel einfacher vorgestellt, aber jetzt sind wir verzweifelt, weil nichts mehr geht. Unser Sexualleben geht völlig den Bach runter.« (Leya*, 33, und Sancho*, 31)

Kinderwunsch und Sexualität: ein großes Thema, mit dem viele Menschen zu mir in die Praxis kommen. Denn Sexualität verändert sich, wenn ein Kinderwunsch in die Tat umgesetzt werden soll. Was Leya und Sancho mir erzählt haben, passiert vielen. Paare entscheiden sich, auf Verhütung zu verzichten, sie erzählen Freunden und Familie davon. Jeden Monat fragen sie sich: Sind wir endlich schwanger? Jeden Monat fragt das Umfeld: Na, hat’s geklappt? Und jeden Monat wird die ganze Sache ein bisschen stressiger. Temperatur messen, Eisprung bestimmen, Menstruationskalender führen, diese und jene App ausprobieren, Sex auf Termin und am besten auf Knopfdruck – alles, um ein Baby zu bekommen. Ach ja, und natürlich haben alle auch noch den ultimativen Tipp an der Hand.

Wenn Sex und Kinderwunsch so eng miteinander verknüpft sind, ist es kein Wunder, wenn der Körper streikt. Plötzlich findet Sex unter Druck statt, die Lust bleibt auf der Strecke, es folgen Erektionsprobleme. Ganz ehrlich: Ich verstehe jeden Penis, der bei so viel Sollen und Müssen schlapp macht. Und ich verstehe jeden Menschen, der in so einer Situation verzweifelt. Nur Mut: Es gibt Wege, damit umzugehen. Und die sind viel einfacher, als die meisten Paare glauben.

Wenn Paare kein Baby bekommen, können sie in einen Strudel der Emotionen geraten. Kinderlosigkeit löst mitunter heftigen psychischen Stress aus, und er verstärkt sich noch, wenn sich ein Paar einer Kinderwunschbehandlung unterzieht. US-Forschende haben deshalb untersucht, ob und wie eine therapeutische Begleitung helfen kann. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass professionelle therapeutische Unterstützung, insbesondere in den entscheidenden Phasen der Kinderwunschbehandlung, zu mehr Schwangerschaften führen kann.

So weit die Forschung. Für Leya und Sancho ging der Stress aber schon vorher los. Sie hatten große Angst davor, was passieren würde, wenn sie kein Kind bekämen. Würden sie sich dann trennen? Ihr Liebesglück schien untrennbar mit dem Kinderwunsch verbunden. Und zu allem Überfluss: Alles sollte ganz natürlich sein. Ein romantisches Paket aus perfektem Zeugungsakt und Babyglück, und das bitte möglichst schnell. Über die Möglichkeit, dass eine Schwangerschaft länger auf sich warten lassen könnte oder ganz ausbleibt, hatten sie nie gesprochen.

Die zwei Sorten der Sexualität

In der Praxis haben wir geredet. Vor allem über die Arten von Sex, die Leya und Sancho miteinander hatten. Vor dem Kinderwunsch gab es Lustsex, aber seit dem Kinderwunsch hatte sich der Sex verändert. Sexualität hatte jetzt einen anderen Sinn, ein bestimmtes Ziel. Wir haben überlegt, wie die neue Art von Sex heißen könnte, und haben ihn »Funktionssex« getauft.

Das war ein spannender Punkt, weil schon durch den Namen klar wurde, dass dieser Funktionssex seine Berechtigung hat. Ja: Es gibt eine Art von Sex, der nach der Uhr stattfindet. Ja: Bei diesem Sex geht es um Penis und Vagina. Ja: Beim funktionalen Sex darf das Vorspiel kurz sein. Leya und Sancho haben sich für ihren Funktionssex Gleitgel gekauft und beschlossen, dass es völlig in Ordnung ist, Pornos zu schauen, um Lust zu bekommen. Sie haben den Funktionssex von romantischen Vorstellungen befreit und auf den gewünschten praktischen Nutzen reduziert.

Es gab jetzt also zwei Arten, Sex zu haben. Ich vergleiche das mit dem Essen: Auch dabei geht’s mal um Genuss, mal um die reine Nahrungsaufnahme. Natürlich ist es toll, mit feinsten Zutaten Gourmetgerichte zu kochen. Aber wenn ich kurz vor dem Verhungern bin, tut’s auch ein Käsebrot. Das Gourmetgericht in Leyas und Sanchos Sexualität war der Lustsex. Da waren sie sich nahe. Ihr Lustsex war übrigens nicht immer Penis-in-Vagina-Sex. Es ging zwar um Erregung und Genitalien, aber die Gefühle spielten sich bei dieser Art von gemeinsamen sexuellen Aktivitäten auf einer anderen Ebene ab.

Die Definition von zwei Sexarten war für die beiden eine Erleichterung. Sie konnten nun sagen: Hey, wir haben dreimal Funktionssex gehabt, Haken dran! Jetzt können wir Lustsex haben. Ohne Druck, ohne dass ein Körper funktionieren muss. Beim Lustsex ging es einfach um Intimität und Nähe. Es war nicht entscheidend, ob es eine Erektion gab oder ob der Sex tendenziell in ein Zeugungszeitfenster passte oder nicht.

Aber dann waren da noch Freunde und Familie, die Leya und Sancho regelrecht mit Fragen und gut gemeinten Ratschlägen bombardierten. Das erzeugte bei ihnen das Gefühl, ständig Bericht erstatten zu müssen. »Wie in der Schule, wenn man an die Tafel muss und die Hausaufgaben wieder nicht gemacht hat – schrecklich!«, so empfand es Sancho. Die beiden haben ihrem Umfeld gesagt, dass sie bitte nicht mehr nachfragen sollen. Ihre Botschaft war: Wenn es etwas zu berichten gibt, werden wir es euch sagen.

Ach, übrigens: Ich weiß bis heute nicht, ob Leya und Sancho ein Kind bekommen haben. Das stand nicht mehr im Mittelpunkt. Am Ende unserer Sitzungen ging es nur noch darum, dass die beiden wieder eine für sie passende Art und Weise von Beziehung und Sexualität gefunden haben.

Und nun sind Sie dran:

Welche Art Sex erleben Sie? Stellen Sie sich unterschiedliche Anlässe und Situationen vor und überlegen Sie, welche Bedürfnisse jeweils damit verbunden sind. Was sind die Arten von Sex, die Sie sich für Ihr Leben wünschen?

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