Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte eines großen Rauschs
Im 19. Jahrhundert erfasste die USA ein beispielloses Goldfieber. In allen Teilen des Landes gaben Menschen ihre Arbeit auf und zogen zu den Goldfeldern für die Chance, ein paar Gramm des kostbaren Edelmetalls an die Oberfläche zu fördern. Nur einige Jahrzehnte später erlebte die Ostküste der USA allerdings noch einen ganz anderen Rausch, der beinahe in Vergessenheit geraten ist. Das Objekt der Begierde diesmal: Kaviar.
Störeier konnten um die Mitte des 19. Jahrhunderts bereits auf eine lange Geschichte als Delikatesse zurückblicken. Obwohl weiterhin Unklarheit über den Ursprung der Bezeichnung »Kaviar« herrscht – der griechische Linguist Demetrius Georgacas veröffentlichte noch im Jahr 1978 eine Arbeit, in der er dem Namen einen griechischen Ursprung zuspricht –, ist belegt, dass schon Aristoteles gesalzene Fischeier verspeiste.
Den Aufstieg zur Delikatesse verdankt der Kaviar aber wohl eher den Mongolen. Unter Batu Khan, dessen Truppen in den 1230er und 1240er Jahren große Gebiete des heutigen Russlands und der Ukraine einnahmen, entwickelte sich Kaviar bald zur Speise der Herrschenden.
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Im Rest Europas wurde Kaviar erst im 15. Jahrhundert bekannt, erfreute sich dann aber bald größerer Beliebtheit. Der französische Renaissanceschriftsteller Rabelais beschied dem Gericht beste Eignung als Vorspeise, und auch von Galileo Galilei ist überliefert, dass er seiner in einen Konvent eingetretenen Tochter Virginia mitunter Kaviar schickte. Über die folgenden Jahrhunderte entwickelte sich Kaviar nicht nur zur Köstlichkeit der russischen Zaren, sondern auch der westlichen Herrscherinnen und Herrscher. Die Fischeier, die sie aßen, stammten dabei zum größten Teil aus dem Kaspischen Meer.
Stör ohne Ende in Nordamerika
Doch das war bei Weitem nicht die einzige Region, in der der Stör in großen Mengen vorkam: Auch in Nordamerika war reichlich von den Fischen vorhanden. Als die ersten Siedler und Siedlerinnen der alten Welt dort ankamen, fanden sie riesige Mengen an Stör in den Flüssen an der Ostküste und in den großen Seen vor – sogar in noch größerer Dichte als im Kaspischen Meer.
Für die indigene Bevölkerung der Ostküste war der große Stör seit Jahrhunderten eine wichtige Proteinquelle, die Kolonialisten hingegen verschmähten ihn – vor allem, weil sie Fisch an sich als minderwertige Nahrungsquelle betrachteten. Nur in Zeiten größter Not wurde der Stör tatsächlich gegessen. Sonst kam er eher als Schweinefutter zum Einsatz und teils sogar als Brennstoff für die Öfen der Dampfschiffe, die zum Beispiel den Delaware River befuhren.
Das änderte sich in den 1840er Jahren mit einem russischen Emigranten, dessen Name leider nicht überliefert ist. Er begann, den lokalen Fischern am Ridley Creek – einem Nebenfluss des Delaware River – einen Dollar pro Stör zu zahlen. Neben dem Fleisch und dem gewonnenen Öl verarbeitet er auch die Eier der Fische, verpackt sie in Dosen und exportiert sie nach Frankreich, Deutschland und sogar Russland.
Der Kaviar boomt
Groß ausgebaut wird die Verwertung des nordamerikanischen Störs in den darauf folgenden Jahrzehnten allerdings von Einwanderern eines anderen Lands – und zwar jenen aus Deutschland. Welcher deutsche Einwanderer tatsächlich der erste war, der die Produktion des nordamerikanischen Kaviars zu einer regelrechten Industrie ausbaute, ist umstritten. Inga Saffron schreibt in ihrem Buch über die Geschichte des Kaviars von einem Mann namens Bendix Blohm, der ursprünglich aus der Nähe Hamburgs stammte und sich nach einem Jahrzehnt als mäßig erfolgreicher Störfischer schließlich der Produktion des Kaviars widmete.
Blohm ließ sich in dem Städtchen Penns Grove nahe der Mündung des Delaware River nieder, und schon im Jahr 1870 verschiffte er fassweise Kaviar nach Europa. Auch in den USA begannen die Menschen nun mit einem gewissen Interesse, Kaviar zu verspeisen – nicht zuletzt, weil nach den Gräueln und den Beschwerlichkeiten des nur wenige Jahre zurückliegenden Bürgerkriegs solche Neuheiten hoch im Kurs standen. Nicht unweit von Penns Grove entstand bald ein Städtchen, das den Namen »Caviar« erhielt und von dessen eigens errichteter Bahnstation aus jeden Tag tonnenweise zubereitete Störeier nach New York transportiert wurden. Kein Ort auf der Welt exportierte zu jener Zeit mehr Kaviar als Caviar.
Beinahe zur selben Zeit gründete ein weiteres deutsches Brüderpaar ein Unternehmen, das sich auf die Verarbeitung des Störs spezialisiert hatte, wie Kathleen Schmitt Kline, Ronald Bruch und Frederick Binkowski in ihrem Buch »People of the Sturgeon: Wisconsin's Love Affair with an Ancient Fish« schreiben. Simon und John Schacht ließen sich im Jahr 1865 in Sandusky, Ohio, direkt an den Ufern des Lake Erie nieder und verarbeiteten im Jahr 1872 bereits um die 13 000 Fische. Das Fleisch des Störs wurde in erster Linie geräuchert, die Hausenblase getrocknet und für die Klärung von Wein und Bier sowie für die Zubereitung von gelatinehaltigen Speisen verkauft. Außerdem produzierten sie natürlich Unmengen an Kaviar, der nach Europa verschifft, teilweise aber auch umetikettiert und als russischer Kaviar vertrieben wurde.
In den folgenden Jahrzehnten entstanden entlang der Ufer der Großen Seen und des Delaware etliche weitere Kaviarunternehmen. Der Großteil davon wurde entweder von deutschen Einwanderern gegründet oder aber von Unternehmern, die aus Deutschland kamen und ebenfalls ein Stück vom Kaviarkuchen abhaben wollten.
Lukrativ war der Kaviarboom auch für die dortigen Fischer: Sie wurden für ihre anstrengende Arbeit im Lauf der Zeit immer fürstlicher entlohnt. Während sie zu Beginn des Kaviarrauschs für einen Stör noch zwei Dollar bekamen – was bei einem durchschnittlichen Verdienst eines Fischers von zehn Dollar pro Woche schon erheblich war –, wurden im Jahr 1897 für einen weiblichen Stör mit Eiern Preise von bis zu 30 US-Dollar aufgerufen.
Überfischung setzt dem Kaviarrausch ein jähes Ende
Doch ähnlich wie der Goldrausch fand auch der Kaviarrausch bald darauf sein Ende: Die Gewässer waren schlichtweg überfischt. Während ein Fischer in den 1870er Jahren pro Tag noch durchschnittlich 65 der begehrten Fische fing, waren es bereits zehn Jahre später nur noch rund 30. 1899, knapp drei Jahrzehnte nachdem Bendix Blohm begonnen hatte, in Penns Grove Kaviar zu produzieren, lag der Durchschnittsfang nur noch bei acht Stören pro Tag.
Trotz baldiger Regulierungsmaßnahmen, teilweise sogar Störfangverboten, ließ sich der Schwund der Fische nicht mehr aufhalten: Knapp 50 Jahre nach dem Beginn des Kaviarrauschs war der Stör aus den nordamerikanischen Wässern so gut wie verschwunden.
Heute gelten weltweit fast alle Störarten als gefährdet oder stark gefährdet. 17 Arten werden von der Weltnaturschutzorganisation IUCN sogar als vom Aussterben bedroht gelistet. Das ist unter anderem auf die Verbauung der Fließgewässer zurückzuführen, denn der Stör muss, ähnlich wie zahlreiche andere Fischarten, für Laichwanderungen oft erhebliche Distanzen zurücklegen – ebenso wie auf den Kaviarhunger, der heute größer ist denn je, auch ohne die tonnenweisen Importe aus Nordamerika.
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