20 Jahre Viagra: Wie eine Pille den Sex für immer veränderte
Vor 20 Jahren, am 27. März 1998, wurde in den USA ein Medikament zugelassen, das die sexuellen Kontakte vieler Menschen verändern würde: Viagra, bekannt als die kleine blaue Pille mit dem Wirkstoff Sildenafil. Wie so oft in der Medikamenten- und Forschungsgeschichte handelt es sich um einen Zufallsfund. Ursprünglich untersuchte der Pharmakonzern Pfizer das Mittel zur Behandlung von Bluthochdruck und Angina pectoris (Herzenge). Der Erfolg auf diesem Gebiet blieb aber aus. Stattdessen berichteten einige Versuchspersonen von auffälligen Peniserektionen. So entschied der Pharmakonzern kurzerhand, das Mittel zur Behandlung erektiler Dysfunktion zu vermarkten. Mit beeindruckendem Erfolg.
Der Höhepunkt der ökonomischen Erfolgsgeschichte des Mittels wurde zehn Jahre nach der Einführung mit knapp 2 Milliarden Dollar Umsatz weltweit erzielt. Billig war und ist das Produkt nicht: Rund 25 bis 40 Dollar kostet es beispielsweise in den USA pro Pille.
Die Verschreibungspraxis
Kein Wunder, dass schnell Fälschungen produziert wurden und viele Krankenkassen das Medikament als »Lifestyle-Mittel« ansahen. In einem Interview bei "Deutschlandfunk Kultur" erkläre ich, was von diesem Vorwurf zu halten ist. Der dort diskutierte Verdacht der reinen Selbstoptimierung war auch die Begründung, dass Viagra meist aus den Erstattungskatalogen entfernt wurde. In Deutschland gab es dagegen Anfang der 2000er Jahre zahlreiche Gerichtsprozesse mit unterschiedlichem Ausgang und schließlich eine Gesetzesänderung gegen die Erstattungsfähigkeit, das GKV-Modernisierungsgesetz vom 14. November 2003.
Solche Bemühungen konnten die Verbreitung des Mittels aber nicht stoppen. Generika-Hersteller bieten es in vielen Ländern seit Jahren zu niedrigeren Preisen an. Der britische Gesundheitsdienst NHS meldete kürzlich eine Steigerung von einer auf drei Millionen jährliche Verschreibungen im Zeitraum von 2006 bis 2016. Dazu würde beitragen, dass Männer sich inzwischen weniger dafür schämten. Inzwischen ist im Vereinigten Königreich, so wie in einigen anderen Ländern, Viagra sogar rezeptfrei in Apotheken erhältlich.
Der Erfolg des Mittels macht deutlich, dass vielen Männern Sex und dabei eine anhaltende Erektion sehr wichtig ist. Dagegen freuen sich nicht alle Partnerinnen über das Mittel: Interviews von der neuseeländischen Forscherin Annie Potts und Kolleginnen an der University of Canterbury ergaben, dass manche Frauen den starken Schwerpunkt auf die Penetration beim Geschlechtsverkehr bedauerten. Offenbar hatten sie andere Formen zärtlichen Kontakts schätzen gelernt, die durch die Erektionsstörungen ihrer Partner in den Vordergrund rückten.
Viagra und ähnliche Medikamente sind inzwischen aber auch in der ChemSex-Szene verbreitet, bei der es eher um das Erleben längerer oder intensiverer sexueller Erfahrungen geht als um die Wiederherstellung einer minimalen oder normalen Funktionsfähigkeit. Beliebt ist ChemSex in Teilen der Schwulenszene beziehungsweise unter Männern, die Sex mit Männern haben (MSM), wie man sie in der Forschung heute eher nennt.
Sex auf Drogen
So ergab eine Befragung von 313 Besuchern Londoner Nachtklubs aus dem Jahr 2015, dass knapp 80 Prozent zur MSM-Gruppe gehörten, von denen knapp 54 Prozent im vorangegangenen Jahr Viagra verwendet – oder in der Sprache der Forscher: »missbraucht« – hatten. Im Vergleich zu dem Drogenkonsum der gesamten Gruppe – rund 74 Prozent Mephedron, eine synthetische Droge, die oft in »Badesalzen« verwendet wurde, 61 Prozent Kokain, 59 Prozent MDMA/Ecstasy, 53 Prozent »Liquid Ecstacy«, 52 Prozent Cannabis und 50 Prozent Ketamin – nimmt sich das aber eher harmlos aus.
Eine erst vor Kurzem erschienene Literaturauswertung einer Forschungsgruppe um den Gerichtsmediziner Raffaele Giorgetti von der Universität im italienischen Ancona ergab, dass solche ChemSex-Mittel nicht nur zu körperlichen Verletzungen durch übermäßigen Gebrauch der aktiven wie passiven Organe führen können. Sie könnten zudem auch die Fähigkeit mancher Menschen einschränken, ihre Sexualpartner auszusuchen oder in den Geschlechtsverkehr einzuwilligen.
Frei in der Apotheke
Wäre es schlimm, wenn sich der Trend durchsetzt, das Mittel rezeptfrei, doch apothekenpflichtig zu verkaufen? Besondere Rücksicht muss dabei auf Herz- und Lebererkrankungen der potenziellen Konsumenten genommen werden. Diese Lösung würde jedenfalls den illegalen Handel eindämmen, bei dem auch verunreinigte Mittel verbreitet werden, und wäre wohl weniger schädlich als die meisten der genannten ChemSex-Drogen.
Freiwillig auf Sex verzichten werden wohl die wenigsten Menschen. Die Alternative, sich auf Formen der Zärtlichkeit einzulassen, bei denen es weniger um Erektion und Penetration geht, dürfte zudem nicht alle befriedigen. Es passt auch nicht so sehr in unsere Zeit der Selbstoptimierung und des perfekten Funktionierens.
Viagra und der Sinn des Lebens
Wer sich jetzt negativ über die vermeintliche Sexsucht anderer äußert, der sollte dabei aber bedenken, dass dahinter auch traumatische Erfahrungen oder eine erlebte Sinnlosigkeit beziehungsweise Leere des Lebens stehen kann. Solche Hintergründe können ebenso Essstörungen (in beide Richtungen), Arbeits- oder Sportsucht, Schauspielerei, illegale Autorennen oder anderen Extremformen menschlichen Verhaltens haben.
Damit hält uns ein erfolgreiches Medikament wie Viagra auch den Spiegel zur Selbstreflexion vor: Worauf kommt es in unserem Leben eigentlich an? Woher kommt der Wunsch, dass alles so gut, ja perfekt funktionieren muss? Warum fällt es uns so schwer, zu akzeptieren, etwas nicht oder nicht mehr zu können?
Viagra und Doping
Der manchmal gezogene Vergleich von Viagra mit »Gehirndoping« oder Neuro-Enhancement hinkt jedoch in den meisten Fällen: Führungspersonal, Selbstständige und Arbeitnehmer, die mit Medikamenten ihre Arbeitsfähigkeit verbessern wollen – eine DAK-Studie schätzte 2015 den Anteil der regelmäßigen Konsumenten auf zwei Prozent –, nehmen die Mittel im Wettbewerb mit anderen. Steht allerdings die Angst im Vordergrund, den (eingebildeten oder realen) Ansprüchen anderer nicht zu genügen, gibt es zumindest auf psychologischem Gebiet Überschneidungen zwischen diesen Kategorien.
Viagra-Sex wird, abgesehen von Pornodarstellern und anderen Sex-Performern, in den meisten Fällen wohl aus Lust und nicht Interesse an monetärem Gewinn geschehen. Daher wäre wohl auch bei einer Freigabe im Sinne der Apothekenpflicht kaum zu erwarten, dass sich immer mehr Männer aus Konkurrenzdruck das Mittel besorgen. Zumal dann, wenn die Forschung darauf hinweist, dass Partnerinnen vielleicht auch andere Formen der sexuellen Zärtlichkeit schöner finden.
Hinweis: Dieser Beitrag erscheint parallel auf Telepolis – Magazin für Netzkultur.
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