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Schlichting!: Eisstrukturen zwischen Mangel und Überfluss

In kalten Nächten wachsen oft weit verzweigte Eiskristalle heran. Wo und wie sie genau entstehen, hängt vor allem von den lokalen Gegebenheiten ab.
Sprießende Spitzen an Ästen

Zwar verlieren Pflanzen im Winter ihre Blütenpracht, doch dafür sprießen an ihnen filigrane, dendritische Eiskristalle und bieten einen schönen und physikalisch interessanten Ersatz. Damit solche Strukturen entstehen können, ist neben tiefen Temperaturen aber auch Wasser nötig.

In einer trockenen und wolkenfreien Nacht kann reichlich davon anfallen. Das ist uns bereits aus den wärmeren Jahreszeiten vertraut: Nicht selten sind am frühen Morgen Blätter und andere Gegenstände mit zahlreichen bei Sonnenschein glitzernden Tautröpfchen benetzt. Durch Abstrahlung von Energie zum dunklen Himmel fällt die Temperatur der Objekte; Luft in deren Nähe kühlt ebenfalls ab. Damit sinkt die maximal mögliche Konzentration des darin enthaltenen Wasserdampfs (maximale Feuchte). Unterschreitet sie die aktuell vor­handene absolute Feuchte, kondensiert das überschüssige Wasser. Die Temperatur, bei der das passiert, heißt Taupunkt.

Kleinere und flachere Gebilde wie Grashalme und Blätter kühlen stärker ab. Denn einerseits ist die pro Zeiteinheit abgestrahlte Energie in etwa proportional zur Größe der Oberfläche, andererseits ist die gespeicherte innere Energie proportional zum Volumen. Wenn r für eine typische lineare Größe eines Gegenstands steht, etwa seinen Radius, dann schrumpft seine Oberfläche proportional mit r2, sein Volumen aber mit r3. Wird das Objekt beispielsweise um den Faktor 10 verkleinert, so verringert sich seine Oberfläche um das 100- und sein Volumen um das 1000-Fache. Also nimmt die zu Letzterem proportionale innere Energie stärker ab als die Oberfläche – und mit der inneren Energie ist wiederum die Temperatur verbunden.

Sprießende Spitzen | Vor allem an den dünnen, unterkühlten Blattseiten wachsen Eiskristalle, indem sie vorbeidriftende Wasser­dampfmoleküle einsammeln.

Im Winter sind die Verhältnisse nicht grundlegend anders, nur liegt der Taupunkt gegebenenfalls unterhalb des Gefrierpunkts. Dann wird der überschüssige Wasserdampf gar nicht erst flüssig, sondern gefriert an den eiskalten, kleinen Strukturen direkt zu Kristallen (Resublimation). Um vom gasförmigen in den festen Zustand überzugehen, benötigen die Wassermoleküle Unterstützung in Form von so genannten Keimen. Das sind meist winzige Partikel, an denen die Kristallisation leichter gelingt als beispielsweise im freien Raum. Der ideale Keim ist ein bereits existierender Eiskristall, und daher wachsen eher vorhandene Exemplare, als dass neue entstehen.

Eisnadeln suchen die Freiheit

Auf einem Blatt entwickeln sich die ersten Eisstrukturen bevorzugt an dünnen Härchen und anderen winzigen Auswüchsen. Sie sind nicht nur besonders kalt, sondern ragen oft außerdem ein Stück weit in die Umgebung hinein, die von Wasserdampfmolekülen wimmelt. Deren Verfügbarkeit ist zudem einer der Gründe dafür, dass die entstehenden Eisnadeln meist nicht in beliebige Richtungen wachsen, sondern von ihrer Basis weg ins Freie. Dabei spielt ein weiterer Aspekt eine wichtige Rolle: Bei der Resublima­tion fällt Energie aus Kondensationswärme und Kristallisationswärme an. Nur wenn sie genügend schnell weggeschafft wird, kann Dampf tatsächlich erstarren.

Haben die Spitzen eine bestimmte Länge erreicht, können Seitenzweige schräg nach oben austreiben, weil ihre Flanken jetzt genügend weit von der Basis entfernt sind. So ergeben sich die dendritischen Strukturen gewissermaßen zwangsläufig.

Hinter zahlreichen alltäglichen Dingen versteckt sich verblüffende Physik. Seit vielen Jahren spürt H. Joachim Schlichting diesen Phänomenen nach und erklärt sie in seiner Kolumne. Schlichting ist Professor für Physik-Didaktik und arbeitete bis zur Emeritierung an der Universität Münster. Alle seine Beiträge finden sich auf dieser Seite.

In der Natur sind vielfältige Eiskristallmuster zu beobachten. Das spiegelt die zahlreichen Möglichkeiten wider, die sich durch die Geometrie der Objekte, die jeweils herrschenden Temperaturverhältnisse, den Nachschub an Wasserdampfmolekülen sowie die Entsorgung der Abwärme ergeben.

»Es waren Myriaden im Erstarren zu ebenmäßiger Vielfalt kristallisch zusammengeschossener Wasserteilchen«
Thomas Mann

Die bislang erläuterten Strukturen entsprechen Verhältnissen mit eingeschränkter Versorgung mit Material und begrenztem Abführen der Kristallisationswärme. In Situationen, in denen reichlich Wasserdampf vorhanden ist und die Wärme optimal abtransportiert wird, gibt es eine ganze Klasse weiterer Eisstrukturen. Sie sind großflächig und dicht. Bei ihnen schlägt sich der Einfluss der hexagonalen Symmetrie der mikroskopischen Wassermoleküle auf die makroskopischen Muster besonders deutlich nieder.

Hexagonale Blättchen | Über Buschwerk, das tagsüber von der Sonne aufgeheizt wurde, wachsen nachts flächige Eiskristalle mit einem typischen Durchmesser von einem Zentimeter.

In einem Fall war der Ausgangspunkt der Strukturbildung eine Schneedecke, die sich großflächig über niedriges Buschwerk gelegt hatte. Tagsüber heizte die intensiv strahlende Sonne den dunklen Raum darunter auf – eine feuchtigkeitsgesättigte Atmosphäre entstand. In der anschließenden sternklaren Nacht kühlte sich die obere Schneeschicht stark ab. Von unten stiegen verhältnismäßig warme Luft und Wasserdampf auf. Letzterer schlug sich im Bereich des Schnees nieder und erstarrte.

Kristallbaum | Die Strukturen treten an manchen Stellen lamellenartig gestaffelt auf.

Bei so einer Konstellation wird die Kristallisationswärme leicht in den kalten Nachthimmel abgestrahlt. So füllen sich beim Emporwachsen selbst die Zwischen­räume problemlos. In nur einer Nacht können auf diese Weise lamellenartige Strukturen entstehen, die teilweise wie nach oben offene Gefäße aussehen und an manchen Stellen wie Kühlrippen gestaffelt sind. Letztere Ähnlichkeit ist mehr als rein äußerlich, schließlich kommt es gerade bei üppiger und effektiver Produktion von Kristallstrukturen weiterhin darauf an, die Wärme optimal abzugeben. So sind auch die typischen weihnachtsbaumartigen Muster weniger eine ästhetisch ansprechende Laune der Natur als vielmehr eine physikalische Notwendigkeit.

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