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Warkus' Welt: Das Buch, das Philosophen wie kaum ein anderes prägte

Euklids »Elemente« hatten eine unvergleichliche Wirkung auf die abendländische Philosophie. Dabei behandeln sie nicht philosophische, sondern geometrische Fragen.
In einer altehrwürdigen dunkel getäfelten Bibliothek sind auf zwei Etagen unzählige Buchrücken zu erkennen
Gibt es vernünftige Rassisten? Hat nicht nur der Ärger unseres Vorgesetzten eine Ursache, sondern auch alles andere auf der Welt? Und was ist eigentlich Veränderung? Der Philosoph Matthias Warkus stellt in seiner Kolumne »Warkus’ Welt« philosophische Überlegungen zu alltäglichen Fragen an.

Eines der für die abendländische Philosophie einflussreichsten Werke beschäftigt sich gar nicht mit Philosophie. Es gehörte bis ins 19. Jahrhundert zu den meistgelesenen Lehrbüchern überhaupt und wurde schon vor weit über 2000 Jahren geschrieben. Vielleicht denken Sie nun, dass ich auf irgendeine religiöse Schrift anspiele, weil in antiker Zeit kein Unterschied zwischen Philosophie und Theologie herrschte und im Christentum die Philosophie lange Zeit als »Dienerin der Theologie« galt. Doch weit gefehlt: Es handelt sich um ein Lehrbuch der Geometrie, die »Elemente« (Stoicheia), die dem hellenistischen Mathematiker Euklid von Alexandria um 300 v. Chr. zugeschrieben werden.

Warum der enorme Einfluss? Um das zu verstehen, muss man den Aufbau des Werks betrachten. Die »Elemente« beginnen mit einer Reihe von Definitionen, einer Aufzählung von fünf Postulaten (darunter etwa, dass sich durch je zwei beliebige Punkte eine Gerade legen lässt) und fünf Grundsätzen, die als selbstverständlich gelten sollen, zum Beispiel: Gleichem dasselbe weggenommen ergibt Gleiches. Im Anschluss werden verschiedene geometrische Konstruktionen mit Zirkel und Lineal vorgenommen und in einfachen Diagrammen wiedergegeben. Dazu wird jeweils anhand der Postulate und Grundsätze hergeleitet, weshalb die Konstruktionen – etwa die eines gleichseitigen Dreiecks auf Grundlage einer gegebenen Strecke – auch tatsächlich korrekt sind.

Die verwendeten sprachlichen Mittel sind dabei auf das Äußerste reduziert, und alle Beweise enden mit dem Satz »Was zu tun war« oder »Was zu zeigen war«. Dabei baut jeder Beweis ausschließlich auf bereits Bewiesenem sowie auf den Ausgangsannahmen auf. So zeigt die zweite Konstruktion, dass es möglich ist, eine Strecke von einem beliebigen Punkt zu einem anderen zu übertragen – wofür die vorherige Konstruktion des gleichseitigen Dreiecks benötigt wird.

Diese Vorgehensweise galt nun über Jahrtausende als Muster einer stringenten wissenschaftlichen Methode: ein strenger, geordneter Aufbau, der aus einem minimalen Satz von Voraussetzungen mit zwingender logischer Schlüssigkeit immer komplexere Wahrheiten herausholt. Es wundert wenig, dass auch und gerade die Philosophie davon fasziniert war. Die hohe Zeit dieser Begeisterung war das 17. Jahrhundert. So trägt das kurz nach seinem Tod 1677 erschienene Hauptwerk des niederländischen Philosophen Baruch de Spinoza die geometrische Methode schon im Titel: »Ethica, Ordine Geometrico demonstrata« – Ethik, nach geometrischer Ordnung bewiesen. Auch er beginnt mit Definitionen und Axiomen und zieht seine Argumentation dann in mathematischer Schrittfolge hoch.

Spinoza kommt zu dem Schluss, dass Gott notwendigerweise existiert, aber kein übernatürliches persönliches Wesen ist, sondern mit der Natur identisch

Schon ein flüchtiger Blick in die beiden Werke zeigt jedoch, welche Schwierigkeit mit dem »geometrischen« Anspruch verbunden ist. Euklids Postulate besagen etwa: »Eine gerade Strecke ist beliebig verlängerbar« (Nr. 2) oder »Alle rechten Winkel sind unter sich gleich« (Nr. 4). Spinoza postuliert zu Beginn seiner »Ethica« beispielsweise: »Eine wahre Idee muss mit ihrem Gegenstand übereinstimmen« (VI) oder »Was als nicht existierend begriffen werden kann, dessen Wesen schließt die Existenz nicht ein« (VII). Es mag sein, dass für Europäer mit akademisch-philosophischem Bildungshintergrund diese beiden Postulate gegen Ende des 17. Jahrhunderts so einleuchtend und selbstverständlich waren wie jene Euklids. Aber vom heutigen Standpunkt aus betrachtet kann man sie sicherlich zumindest diskutieren – und die im weiteren Verfahren erarbeiteten Ergebnisse Spinozas nicht minder. Schließlich kommt er unter anderem zu dem Schluss, dass Gott notwendigerweise existiert, aber kein übernatürliches persönliches Wesen ist, sondern mit der Natur identisch.

Ist die »geometrische Methode« ein Stilmittel?

Man könnte den Eindruck gewinnen, dass die »geometrische Methode« vor allem ein Stilmittel ist, ein Versuch, die eigenen Gedanken vielleicht besser zu strukturieren, auf jeden Fall strukturierter erscheinen zu lassen. Es gibt eine Reihe berühmter philosophischer Werke wie etwa der »Tractatus« von Ludwig Wittgenstein (1918), der schon mit seinem Titel auf Spinoza anspielt, oder der »Logische Aufbau der Welt« von Rudolf Carnap (1926), die in der einen oder anderen Art und Weise den Anspruch erheben, eine konsequente, mathematisch-logische Ordnung in ihrem Vorgehen einzuhalten.

Die euklidische Geometrie ist jedoch selbst nicht ohne Schwächen, insbesondere arbeitet sie mit schwammigen Definitionen von Gerade (»eine Linie, die durch Punkte gleichmäßig gegeben ist«) und Ebene (»etwas, was nur Länge und Breite hat«). Hinzu kommt der wissenschaftsgeschichtlich sehr bedeutsame Ärger mit dem Parallelenpostulat, den ich aber hier ausklammere, weil er irgendwann einmal eine eigene Kolumne verdient hat …

Doch bei aller Kritisierbarkeit: Man muss neidlos feststellen, dass die Philosophie bei all ihren Versuchen nie ein Werk hervorgebracht hat, das sich in seiner Konsensfähigkeit mit den »Elementen« messen kann. Ich persönlich neige sogar dazu, das für unmöglich zu halten, weil philosophische Begriffe notwendigerweise in einer ganz anderen Liga spielen als geometrische – aber es gibt durchaus Philosophen, die bis heute darauf hoffen, dass jemand irgendwann eine Reihe von Propositionen untereinanderschreibt, die so zwingend dargelegt sind, dass man gar nicht anders kann, als sie zu akzeptieren.

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