Freistetters Formelwelt: Wie kommt man auf die gefühlte Temperatur?
Draußen herrscht eine Temperatur von knapp über drei Grad Celsius. So könnte einer der vielen Online-Wetterdienste melden, der gleich noch darüber informiert, dass die »gefühlte Temperatur« bei minus vier Grad Celsius liegt. In der folgenden Nacht müsse man sogar mit einer gefühlten Temperatur von minus zehn Grad Celsius rechnen. Bedeutet das nun, dass man darauf achten muss, beim Abendspaziergang keine Erfrierungen zu erleiden?
Denn am Abend soll es windig werden, und selbst wenn die Temperatur gerade noch nicht unter den Gefrierpunkt sinkt, kann die so genannte Windchill-Temperatur dennoch unter null Grad Celsius liegen. Sie errechnet sich mit dieser Formel:
Mit θa wird in dieser Formel die »normale«, also die tatsächlich gemessene Lufttemperatur bezeichnet. Die Windgeschwindigkeit in Kilometern pro Stunde geht mit v in die Gleichung ein, und das Ergebnis ist die Windchill-Temperatur θWCT.
Man kann der Formel schon ansehen, dass es sich nicht um ein aus fundamentalen physikalischen Zusammenhängen abgeleitetes Ergebnis handelt. Die »krummen« Zahlen identifizieren sie als »empirische« Formel, also als Gleichung, die aus Messwerten abgeleitet worden ist. Man kann damit zwar zwei konkrete Größen – in diesem Fall die Windgeschwindigkeit und die Lufttemperatur – so verbinden, dass sie eine bestimmte Datenlage reproduziert. Aber tiefere physikalische Zusammenhänge lassen sich auf diese Weise nicht erkennen.
Wenn ich an dem oben beschriebenen Abend spazieren ginge, würde meine Haut (beziehungsweise die Teile meiner Haut, die der Luft direkt ausgesetzt sind) natürlich nicht auf minus zehn Grad Celsius abkühlen. Ich muss mir keine Sorgen um Erfrierungen machen. Die Windchill-Temperatur beschreibt nur, um wie viel schneller meine Haut auf die tatsächliche Lufttemperatur abkühlt, als es ohne Wind der Fall gewesen wäre.
Und natürlich ist die Windgeschwindigkeit nicht der einzige Faktor, der eine Rolle bei der Wahrnehmung der Lufttemperatur spielt. Es kommt zum Beispiel darauf an, ob ich gemütlich durch die Nacht spaziere oder schnell laufe. Ob mir der Wind die Luft ins Gesicht bläst oder ich sie nur als »Fahrtwind« spüre, macht in diesem Fall keinen Unterschied. Würde ich aber nicht joggen, sondern mit dem Fahrrad durch die Gegend fahren, wäre mir mit Sicherheit deutlich kälter. Denn körperliche Bewegung erzeugt Wärme, und die muss man ebenfalls auch berücksichtigen – genauso wie die Luftfeuchtigkeit und den Luftdruck. Würde ich nicht im nur 143 Meter hoch gelegenen Jena spazierengehen, sondern im Hochgebirge klettern, dann wäre die Luft dort weniger dicht und könnte auch weniger Wärme speichern. Es kommt darauf an, ob es dunkel ist, bewölkt oder ob die Sonne strahlend in mein Gesicht scheint. Mein Gewicht, meine Körperoberfläche und die Wärmeisolierung meiner Kleidung haben ebenfalls Einfluss auf die Temperatur, die ich am Ende tatsächlich fühle.
All das wird im so genannten »Klima-Michel-Modell« der Energiebilanz des menschlichen Organismus zusammengefasst. Das hat allerdings kein Herr Michel entwickelt, sondern Gerd Jendritzky im Jahr 1990. Der »Michel« im Modell ist ein Durchschnittsmensch, auf den sich die Berechnungen beziehen. Dieser »Klima-Michel« dient auch als Grundlage für die »gefühlten Temperaturen«, die vom Deutschen Wetterdienst veröffentlicht werden.
Selbst mit diesem Modell ist es nicht möglich, die von mir gefühlte Temperatur exakt zu berechnen. Es gibt einfach zu viele Einflüsse, die eine Rolle spielen. Als Richtwert ist die Angabe der gefühlten Temperatur aber durchaus sinnvoll. Und selbst wenn ich keine Angst vor Erfrierungen haben muss, klingen doch ungefähre minus zehn Grad Celsius ein klein wenig zu ungemütlich für einen langen Spaziergang. Vielleicht werde ich einfach am Weihnachtsmarkt Halt machen und die Energiebilanz durch den Konsum einiger Heißgetränke weiter verkomplizieren.
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