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Freistetters Formelwelt: Wie man das Chaos bändigen kann

Das Chaos in der Naturwissenschaft unterscheidet sich von dem im Alltag. Vorhersagen über chaotische Systeme wie das Wetter oder die Bewegung von Himmelskörpern sind daher schwierig.
Verkehrschaos in Hanoi

Chaos ist mehr als nur ein unordentlicher Schreibtisch. Zumindest wenn es nicht um den Alltagsbegriff geht, sondern um die mathematische Disziplin der Chaostheorie. Hier hat das "Chaos" weniger mit der menschlichen Unordnung zu tun als vielmehr mit der Komplexität eines dynamischen Systems. Als Astronom mit dem Spezialgebiet der Himmelsmechanik gehört das Chaos zu meinem Tagesgeschäft: Die Bewegung von mehr als zwei Himmelskörpern unter ihrem wechselseitigen gravitativen Einfluss ist mathematisch nicht exakt lösbar und so komplex, dass es dort ständig zu chaotischen Effekten kommt.

Gleich ob es um die Frage geht, ob ein Asteroid mit der Erde kollidiert oder das Sonnensystem auf lange Sicht stabil ist oder nicht – man sollte dabei wissen, wie man mit dem Chaos umgeht. Vor allem aber will und muss man herausfinden, ob überhaupt ein chaotischer Zustand vorliegt oder nicht. Dafür gibt es so genannte Chaosindikatoren, unter denen der durch die folgende Formel beschriebene Ljapunow-Exponent am wichtigsten ist:

Die Formel beschreibt nicht nur einen komplexen Sachverhalt, sie sieht auch komplex aus. Die Zahl λ ist der Ljapunow-Exponent selbst, der sich auf einen bestimmten Anfangszustand x0 eines dynamischen Systems bezieht – wie eine bestimmte Konfiguration von Sonne, Planeten und Asteroiden. Am Ende der Formel findet sich zwischen den beiden senkrechten Strichen ein Ausdruck, welcher der zeitlichen Veränderung einer Funktion fN(x0) entspricht. Durch diese Funktion wird das dynamische Verhalten des Systems beschrieben; im Beispiel des Sonnensystems etwa die newtonschen Gravitationsgleichungen. Der Verlauf der Zeit wird durch den Index N angegeben, und die Formel gilt für den Idealfall von unendlich vielen vergangenen Zeitschritten.

Übersetzt man die Mathematik der Formel in eine verständlichere Sprache, dann beschreibt der Ljapunow-Exponent, wie schnell sich zwei ursprünglich eng benachbarte dynamische Zustände im Lauf der Zeit voneinander entfernen. Im Beispiel der Bewegung von Himmelskörpern kann man sich zwei Asteroiden auf äußerst ähnlich Umlaufbahnen vorstellen. Befinden sie sich in einer stabilen Region des Sonnensystems, dann werden sie sich nach und nach zwar voneinander entfernen, aber der Abstand zwischen ihnen wird nur langsam anwachsen. In einer chaotischen Region dagegen sind auch eng benachbarte Asteroiden schon nach kurzer Zeit alles andere als Nachbarn und bewegen sich auf völlig unterschiedlichen Umlaufbahnen: Der Abstand zwischen ihnen wächst exponentiell.

Der Unterschied zwischen Ordnung und Chaos entspricht dem Vorzeichen des Ljapunow-Exponenten. Ist er negativ, dann hat man es mit einem stabilen Zustand zu tun; ist er positiv, dann herrscht das Chaos. Dieser einfache Zusammenhang macht ihn zu einem praktischen Werkzeug für alle, die es mit komplexen dynamischen Systemen zu tun haben. Besonders instruktiv ist die Ljapunow-Zeit, die sich aus dem Kehrwert des Ljapunow-Exponenten berechnet. Sie gibt an, über welchen Zeitraum hinweg sinnvolle Vorhersagen über das System möglich sind. Als ich mich im Zuge meiner Dissertation mit den Kollisionswahrscheinlichkeiten von erdnahen Asteroiden beschäftigt habe, stand ich genau vor so einem Problem. Die gravitativen Störungen von Erde, Venus und Mars haben die Bewegung dieser Himmelskörper so chaotisch gemacht, dass die Ljapunow-Zeit mancher kosmischer Brocken nur wenige tausend bis zehntausend Jahre betrug. Ich war aber an der Langzeitdynamik dieser Objekte interessiert und wollte wissen, wie sie sich im Verlauf von mehreren hunderttausend Jahren verhalten. Das ist mit klassischen Methoden nicht mehr möglich; hier muss man auf die Statistik ausweichen und sich von der Vorstellung verabschieden, man könne konkrete Vorhersagen über einzelne Objekte machen.

Die noch im 19. Jahrhundert verbreitete Idee, das Sonnensystem sei ein deterministisches Uhrwerk, in dem alles vorhersagbar seinen Bahnen folgt, ist mit der komplexen Realität des Chaos nicht mehr vereinbar. Aber zumindest hat die Mathematik Methoden gefunden, um das Chaos zu beschreiben und zu quantifizieren. Das macht einen unordentlichen Schreibtisch zwar nicht weniger unordentlich – die komplizierten Vorgänge in der Natur lassen sich dadurch aber immerhin besser verstehen.

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