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Zeitdiagnosen: Wie man des Wahnsinns im Netz Herr wird

Obwohl es um ihre eigene Gesundheit geht, vertrauen derzeit viele lieber den Verschwörungstheoretikern. Das liegt in der Natur von Netz und Mensch, kommentiert der Kommunikationswissenschaftler Wolfgang Schweiger.
Der Wirkung von Meinungsmache im Netz kann man sich kaum entziehen

Nach Monaten der Coronakrise scheint das Internet vollzulaufen: Aus allen Ecken und Enden kommt Widerstand gegen die Regelungen von Bund und Ländern. Spekulationen, Fake News und die wildesten Verschwörungstheorien kursieren. Gleichzeitig vermischen sich vorher getrennte oder einander feindliche Lager – Linke, Rechte, Populisten, Esoteriker, Verschwörungstheoretiker, Angehörige der Fundamentalopposition – im Netz und auf der Straße und marschieren gegen Mainstream und Establishment.

Der Grundtenor der Protestierenden ist seit Pegida und den Anfängen der AfD vertraut: Die klassischen Medien würden ohnehin alle mit den politischen und/oder wirtschaftlichen Mächten unter einer Decke stecken. Wer nicht zu den naiven Schafen gehören wolle, müsse sich seine eigene Meinung bilden – mit unabhängigen Quellen und durch den Austausch mit anderen Wahrheitssuchenden und -findenden. Die melden sich in großer Zahl im Internet zu Wort: Nicht nur Ken Jebsen ist mit seinem Youtube-Kanal KenFM erfolgreich, auch alternative Nachrichtenquellen wie die »Epoch Times Deutschland« sowie Rapper und sonstige Influencer erreichen Millionen von Menschen.

Zweifellos haben sich Teile der Eliten in Politik, Wirtschaft und Journalismus ein gesundes Misstrauen verdient. Und natürlich wünschen wir uns in einem demokratischen Rechtsstaat wache und mündige Bürger. Jedoch scheint der öffentliche Diskurs in einem beunruhigenden Maß überhitzt zu sein. Woher kommt das?

»Zeitdiagnosen« ist ein Projekt in Kooperation mit dem Verlag Springer VS. In dieser Kolumne beziehen einmal im Monat wechselnde Experten und Expertinnen aus den Sozial-, Medien- und Politikwissenschaften Stellung zu aktuellen Debatten unserer Zeit.

In der aktuellen Debatte um die Hintergründe dieser Entwicklung scheint mir die Rolle des Internets als Informationskanal und Diskussionsraum unterbelichtet. Natürlich haben gesellschaftliche (Fehl-)Entwicklungen nicht nur eine einzige Ursache, die Begleitumstände der Coronakrise lassen viele Menschen aufgeregt, frustriert und offensichtlich auch zutiefst politisiert zurück. Und doch ist deren Politisierung stärker durch das Netz geprägt und umgekehrt das Netz durch die Politisierung dieser Menschen, als uns derzeit bewusst ist. Einige wesentliche Aspekte werden dabei übersehen.

Fünf Aspekte verdienen mehr Aufmerksamkeit

Erstens: Normalerweise beschränken sich Menschen auch im Netz auf ein überschaubares Repertoire an Nachrichtenangeboten, die sie häufig ritualisiert nutzen, kennen und entsprechend einschätzen können. Je stärker jedoch ihr Informationsbedürfnis, desto häufiger suchen sie aktiv nach neuen Inhalten. Genau das geschieht bei vielen verunsicherten, politisierten Menschen in einer Krisenzeit wie der jetzigen. Das Problem: Wer sich online als seriöse Quelle geben will, kann das ohne größeren Aufwand tun und einem oft überforderten Publikum Lügen, Halbwahrheiten, Verzerrungen oder krude Verschwörungstheorien auftischen.

Ken Jebsen berichtet in seinen professionell gemachten Videos, er habe seit Jahrzehnten einen Presseausweis – vielen mag das als Nachweis seiner journalistischen Qualifikation bereits genügen. Klimawandelleugner publizieren in Journals, deren Geschäftsmodell darin besteht, Quatschstudien das Qualitätssiegel eines formal korrekten Peer-Reviews zu verleihen, sofern die Bezahlung stimmt. Welcher Bürger, der im Netz auf eine solche ›Studie‹ stößt, kann einen solchen Missbrauch erkennen?

Wenn wir also fordern, die Nutzer sollten bei Informationen im Netz vorsichtig sein und deren Quellen und Inhalte gründlich überprüfen, ist das bestenfalls eine romantische Vorstellung: Niemand kann geschickt kaschierte Desinformationen im Netz erkennen, ohne sich mehrere Tage in die Thematik einzuarbeiten.

Zweitens: Auch wenn ein Onlineangebot Informationen ausgewogen und korrekt darstellt, heißt das noch lange nicht, dass die Nutzer sie richtig verstehen. Wer nach medizinischen Informationen googelt, findet populärwissenschaftliche Angebote, deren vereinfachte Darstellungen in die Irre führen können, er findet medizinische Fachdarstellungen, aus deren ›Kauderwelsch‹ man etwas herauszulesen meint, was oft genauso wenig stimmt. Oder man hat es mit Erfahrungsberichten von Menschen zu tun, die nicht mehr Ahnung von der Materie haben als man selbst. Wer also sagt Internetnutzern, welche Quellen nicht nur glaubwürdig, sondern auch wirklich für sie geeignet sind, und ob sie die Inhalte richtig verstanden haben?

Drittens: Wir Menschen bevorzugen seit jeher Informationen, die zu unseren Weltbildern passen und unsere Meinungen bestätigen. Nun findet man bekanntlich im Netz jede Weltsicht und jede Meinung, mag sie noch so randständig oder – wie im Fall von Verschwörungstheorien – krude sein. Egal, wie extrem oder verrückt meine Meinung oder mein Weltbild sein mag: In der Fülle und Vielfalt des Internets ist immer das Passende dabei. Was ich nicht richtig verstehe, interpretiere ich, wie ich es verstehen möchte. Was mich mit anderen Ansichten konfrontiert, lehne ich ab oder nutze es sogar noch zur Verstärkung meiner bestehenden Meinung. Studien legen nahe, dass gerade der Kontakt mit gegnerischen Positionen zur gesellschaftlichen Polarisierung beitragen kann. Dabei gilt: Je politisierter eine Person ist und je eindeutiger ihre Meinung, desto stärker kommen die genannten Effekte zum Tragen.

Die »Stimmung im Netz« ist eine Fata Morgana: Sie kann sich jederzeit ändern

Das gilt natürlich, viertens, auch und gerade für Onlinediskussionen. In den Foren und Kommentarspalten bleiben Meinungs- und Weltbildlager in ihren Echokammern untereinander und verstärken sich in ihren Einstellungen gegenseitig. Stoßen sie doch einmal aufeinander, findet selten eine echte Diskussion statt. Es wird geschimpft, beleidigt, es kursieren fragwürdige Quellen, und die destruktiven Aussagen von Trollen ziehen mehr Aufmerksamkeit auf sich als die Stimmen besonnener Vermittler. Man muss deshalb leider festhalten, dass Diskussionen zu weltanschaulichen Konfliktthemen im Netz nicht funktionieren, zumindest wenn sie von einer größeren Zahl einander unbekannter Menschen geführt werden.

Fünftens und besonders häufig übersehen: Nicht nur Politiker und Journalisten, sondern auch Bürgerinnen und Bürger wollen wissen, welche Haltung die anderen Menschen zu aktuellen Themen haben, beispielsweise zu den Corona-Einschränkungen. Weil es so schön einfach ist, setzen viele dabei die persönlich wahrgenommene Stimmung im Netz mit der Stimmung im Land gleich.

Das denken die anderen

Das ist aus mindestens zwei Gründen fatal: Zum einen sieht jeder immer nur seine eigene Filterblase – seine persönliche, algorithmisch gefilterte Version des Netzes. Zum anderen ist die Redebereitschaft im Netz höchst unterschiedlich. Politisierte Bürger mit ausgeprägten bis extremen Meinungen trauen sich eher, ihre Meinung öffentlich zum Ausdruck zu bringen. Wähnen sie sich noch dazu in der Mehrheit, werden sie selbstbewusster und lauter. Menschen mit weniger eindeutigen Einstellungen hingegen werden leiser. Damit sinkt ihre öffentliche Wahrnehmbarkeit, so dass sie die Größe ihres eigenen Lagers unterschätzen und in einer Art Schweigespirale weiter verstummen.

Niemand, Politiker genauso wenig wie Medien und andere Akteure, sollte sich darum von einer vermeintlichen »Stimmung im Netz« beeinflussen lassen. Sie ist eine Fata Morgana und kann sich jederzeit ändern.

Was können wir tun, um die allgemeine Verwirrung im Netz und darüber hinaus zu beruhigen? Sicher ist es wichtig, privat- und strafrechtliche Delikte im Netz stärker zu verfolgen, sprich Beleidigungen, Verleumdungen oder Volksverhetzung auch online einen Riegel vorzuschieben. Darüber hinausgehend aber gesteht es die grundgesetzlich verbürgte Presse-, Informations- und Meinungsfreiheit jedem zu, online Verschwörungstheorien zu verbreiten oder Lügen und Verdrehungen zu erzählen, solange er oder sie dabei kein Delikt begeht.

Kommunikation gelingt nur, wenn Vertrauen herrscht

Ohnehin würden Verbote an den skizzierten Phänomenen im Kern nichts ändern. Viel wichtiger ist es, sich eine alte Weisheit bewusst zu machen, auf die bereits Niklas Luhmann hingewiesen hat: Kommunikation gelingt nur bei gegenseitigem Vertrauen. Nur wenn es Politik, öffentlichen Institutionen und Journalismus gelingt, ihre bei Teilen der Bevölkerung angeknackste Glaubwürdigkeit wiederzugewinnen, finden sie dort auch wieder Gehör. Fakten und rationale Argumente sind gut und löblich, doch sie allein schaffen noch kein Vertrauen. Auch die Ausgrenzung von Menschen, die fragwürdige Thesen und Meinungen vertreten, hilft nicht. Das macht sie nur fanatischer, lauter und extremer und verstärkt die Polarisierung weiter.

Wichtiger ist es, die Bevölkerung über politische Hintergründe aufzuklären – und über die eigenen Unsicherheiten. Politik, Verwaltung und Journalismus dürfen nicht müde werden, Fragen zu beantworten: Wie treffen Politiker Entscheidungen, obwohl sie zur Entwicklung der Pandemie auch nur Vermutungen haben? Wie arbeiten sie mit der Wissenschaft zusammen? Wodurch bleibt dennoch die jeweilige Unabhängigkeit gewahrt? Warum unterscheiden sich wissenschaftliche Befunde voneinander? Wie wählen Journalisten die Themen aus, über die sie berichten? Warum machen Politik, Verwaltung und Journalismus auch mal Fehler, müssen sich korrigieren und scheinen sich selbst dabei zu widersprechen? Und warum ist das nicht zu ändern und gar nicht mal so schlimm?

Nur wenn Politik und Medien diese Einblicke gewähren, können sie langsam, aber sicher das Vertrauen der Menschen gewinnen. Erst das wird den zahllosen Populisten, Verschwörungstheoretikern und fragwürdigen Geschäftemachern im Netz den Wind aus den Segeln nehmen.

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