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Freistetters Formelwelt: Über den Daumen gepeilt

»Pi mal Daumen« ist nur eine Redewendung, rechnen kann man mit dem Daumen allerdings trotzdem. Das ist zwar nicht allzu genau, aber für manche Zwecke reicht es.
Ein Junge mit sehr schlimmer Fliege am Kragen streckt den Daumen nach oben.

Abschätzungen sind durchaus sinnvolle Instrumente. Obwohl die Mathematik prinzipiell eine exakte Wissenschaft ist, ist sie gerade deshalb auch in der Lage, präzise mit Ungenauigkeiten umzugehen. Und wenn Zahlen wie Pi im Spiel sind, kann sie oft nicht anders. Pi ist irrational und hat unendlich viele Nachkommastellen, die keinem Muster folgen. Will man mit einer Formel, in der die Kreiszahl auftaucht, ein konkretes numerisches Ergebnis berechnen, ist es daher unmöglich, diese unendlich vielen Stellen in einen Taschenrechner zu tippen.

In der Praxis ist das Ergebnis meistens ausreichend genau, so dass die durch den Abbruch der Nachkommastellenentwicklung entstandene Ungenauigkeit nicht weiter auffällt. Doch wenn es nötig ist, kann diese fehlende Präzision mathematisch korrekt behandelt werden.

Trotzdem lässt sich ein Daumen in einer mathematischen Formel unterbringen:

Mit diesem Zusammenhang kann man eine simple Schätzmethode mathematisch ausdrücken: Wenn ich meinen Arm ausstrecke und darüber den ebenfalls ausgestreckten Daumen anpeile, dann ist ein Objekt in d Metern Entfernung, das genau so breit wie mein Daumen erscheint, in Wahrheit D Meter groß.

Woher kommt die »Faustregel«?

Diese Näherungsformel beruht darauf, dass ein Daumen bei ausgestrecktem Arm etwa 60 Zentimeter von unseren Augen entfernt ist. Ein typischer Daumen hat eine Breite von zwei Zentimetern. Dividiert man die Daumenbreite durch die Entfernung, dann erhält man den Winkel, unter dem er erscheint (im Bogenmaß), was in diesem Fall 1/30 ergibt. Und auch in den meisten anderen Fällen, denn üblicherweise haben Menschen mit kürzeren Armen auch schmalere Daumen.

Pi taucht in dieser Formel nicht auf, und es ist weder mathematisch noch etymologisch letztgültig geklärt, wie der Ausdruck »Pi mal Daumen« entstanden ist. Sicher ist aber, dass das englische Pendant »rule of thumb« – entgegen diversen populären Erzählungen – seinen Ursprung NICHT in einem Gesetz hat, dass Männern das Schlagen ihrer Frauen erlaubt, sofern der dabei verwendete Stock nicht dicker als der Daumen ist. Der Ursprung der sprichwörtlichen »Faustregel« ist ebenso unklar. Klar sind dagegen die mathematischen Konsequenzen der Formel: Man kann sie natürlich auch umgekehrt einsetzen. Kenne ich die wahre Größe eines Objekts, dann muss ich nur »messen«, wie viele Daumen es scheinbar breit ist, um seine Entfernung zu berechnen.

Diese Methode lässt sich auch in einer leicht variierten Form verwenden. Dazu benutzt man das Phänomen der Parallaxe: Peilt man ein Objekt über den ausgestreckten Daumen zuerst mit dem einen Auge an und dann mit dem anderen, scheint der Daumen zu »springen«. Der Abstand zwischen den Augen beträgt typischerweise ungefähr sechs Zentimeter, und jedes von ihnen sieht den Daumen unter einem leicht unterschiedlichen Winkel. Im Vergleich zu einem weiter entfernten Hintergrundobjekt ändert der Daumen also scheinbar seine Position, wenn er mal mit dem einen, mal mit dem anderen Auge betrachtet wird.

Das Verhältnis von Armlänge zu Augenabstand beträgt etwa 1 : 10. Wenn ich nun abschätzen kann, wie weit die Distanz zwischen den beiden scheinbaren Daumenpositionen in der Entfernung am Ziel ist, muss ich diese nur noch mit zehn multiplizieren, um meine Entfernung zu schätzen. Springt mein Daumen zum Beispiel gerade so weit, wie ein in der gesuchten Entfernung stehendes Auto lang ist, dann beträgt mein Abstand zum Auto das Zehnfache seiner Länge. Jetzt muss man noch wissen, wie lang das Auto ist – sonst nutzt die beste Formel nichts. Am Ende ist es eben doch nur eine Methode zur Abschätzung und kein exaktes Verfahren. Pi mal Daumen eben.

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