Freistetters Formelwelt: Wie oft hat sich die Erde schon um die Sonne gedreht?
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Wie alt ist die Erde? Diese Frage hat die Menschheit schon immer interessiert. In ersten Versuchen wurde die Antwort in religiösen Texten gesucht. Denn lange Zeit hat kaum jemand daran gezweifelt, dass unser Planet erstens von einem Gott erschaffen wurde und dass die Bibel zweitens einen exakten und wahrheitsgetreuen Bericht dieser Schöpfungsgeschichte enthält. Also war es nicht seltsam, dass der irische Bischof James Ussher im 17. Jahrhundert durch genaue Auswertung der Zeitangaben in der Bibel den Tag der Entstehung der Erde auf den 23. Oktober 4004 v. Chr. bestimmt hat.
Doch spätestens ab dem 18. Jahrhundert fingen Wissenschaftler an, sich von der Religion zu lösen und nach Antworten außerhalb der Bibel zu suchen. 1749 veröffentlichte der französische Forscher Georges-Louis Leclerc de Buffon in seinem Werk »Histoire Naturelle« seine eigene Bestimmung des Erdalters: Unser Planet sei vor 74 047 Jahren entstanden. Aus heutiger Sicht wirkt diese jahrgenaue Angabe fast ebenso absurd wie das Datum von Bischof Ussher. Und wir wissen, dass die Erde viel älter ist. Aber Buffon ist das Problem wissenschaftlich angegangen – daher kann sein Fehler durch diese Formel erklärt werden:
\[ Bi = \frac{h}{k}L\]Buffon vermutete, dass die Erde durch den Zusammenstoß eines Kometen mit der Sonne entstanden sei. Deswegen musste sie nach ihrer Entstehung logischerweise glühend heiß gewesen sein. Heute ist sie das nicht mehr. Wenn man also wüsste, wie lange ein Objekt wie die Erde zum Abkühlen braucht, könnte man daraus ihr Alter bestimmen.
Deshalb hat Buffon Eisenkugeln unterschiedlicher Größe erhitzt und gemessen, wie lange es dauert, bis sie Raumtemperatur erreichen. Mit diesen Daten hat er dann extrapoliert, wie lange eine erdgroße Kugel zum Abkühlen bräuchte. Das Ergebnis: 4096 Jahre, bis sie zumindest nicht mehr flüssig ist, und 100 696 Jahre bis zur heutigen Temperatur. Allerdings – und das war Buffon bewusst – ist die Erde keine Eisenkugel. Berücksichtigt man, dass sie auch aus Gestein und anderen Materialien besteht, dann reduziert sich die Zeit bis zum Festwerden auf 2905 Jahre und bis zur vollständigen Abkühlung hat es demnach 74 047 Jahre gedauert.
Falsche Voraussetzungen
Und hier kommt die so genannte Biot-Zahl Bi in der Formel ins Spiel. Sie beschreibt vereinfacht gesagt das Verhalten der Temperatur im Inneren eines Körpers beim Erhitzen und Abkühlen. Mit h wird der Wärmeübergangskoeffizient beschrieben, mit k die spezifische Wärmeleitfähigkeit des Materials und mit L die Dicke des Körpers, der sich erwärmt beziehungsweise abkühlt. Anders ausgedrückt: Ist die Biot-Zahl sehr klein (viel kleiner als 1), dann hat man es mit einem fast gleichmäßigen Temperaturfeld im Inneren des Körpers zu tun. Bei großen Biot-Zahlen ist die Temperaturverteilung im Inneren des Körpers sehr unterschiedlich.
Buffons Versuch, das Alter der Erde aus der Abkühlung einer Eisenkugel abzuleiten, setzt eine sehr kleine Biot-Zahl voraus. Die findet man bei seinen Experimenten nur, wenn der Radius der Kugeln nicht zu groß wird. Die Grenze liegt bei zirka 17 Zentimetern. Buffons Kugeln waren zwar kleiner; die Erde ist aber definitiv sehr viel größer. Das heißt, die Beziehung zwischen Größe und Abkühldauer hat bei den Eisenkugeln funktioniert, auf die Größe der Erde lässt sie sich jedoch nicht erweitern. Die Biot-Zahl der Erde ist sehr, sehr viel größer als 1 und Buffons Ergebnis damit falsch.
Trotzdem war es der erste Versuch, das Alter der Erde mit rein wissenschaftlichen Methoden zu bestimmen. Das fehlende Wissen über den inneren Aufbau der Erde kann und soll man Buffon nicht vorwerfen. Wer etwas zum ersten Mal macht, macht oft Fehler – eröffnet jedoch auch der wahren Erkenntnis den Weg.
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