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Sex matters: Wie Rituale ihre Bedeutung bewahren

Selbst ausgefallene Rituale können im Beziehungsalltag zu einer belanglosen Routine werden. Der Sexualtherapeut Carsten Müller erklärt, wie man dem Gewöhnlichen wieder Bedeutung verleiht. Eine Kolumne.
Pärchen sitzt glücklich im Kino, sie hat ihren Kopf auf seine Schulter gelegt
Ein gemeinsamer Kinobesuch kann ein schönes Ritual sein. (Symbolbild)

»Heute Morgen habe ich mich gefragt, ob ich mit meiner Frau eigentlich in einer Wohngemeinschaft lebe oder ob das noch eine Beziehung ist. Wir sind seit 16 Jahren zusammen, und ich liebe sie immer noch. Aber alles, was in unserer Beziehung mal besonders war, ist inzwischen Routine. Sex haben wir kaum noch. Wir leben nebeneinander her. Wie können wir das ändern?« (Michael*, 46)

Ein Klassiker in langjährigen Beziehungen: Zärtliche Rituale werden zur stumpfen Routine. Wir absolvieren sie, obwohl sie nichts mehr mit uns machen. Wir ziehen sie durch, ohne den Partner oder die Partnerin wirklich wahrzunehmen. Rituale werden ein Teil des Alltags, so beliebig wie das Ein- und Ausschalten der Kaffeemaschine. Das ist schade, denn Beliebigkeit macht keine Lust. Schon gar nicht auf Sex.

Menschen wünschen sich in Beziehungen vor allem eines: Wertschätzung. Sie wollen wahrgenommen werden und das Gefühl haben, für den anderen wichtig zu sein. Sobald ich mir etwas für meinen Partner oder meine Partnerin überlege, mir Gedanken um ihn oder sie mache, ist das eine Form der Wertschätzung. So kann aus einer Verpflichtung wieder etwas Verbindendes werden. Und dann entsteht emotionale Nähe und Intimität.

Intime Momente befeuern das Verlangen

Eine niederländische Studie belegt, wie wichtig emotionale Intimität für unser Sexualleben ist. 134 Teilnehmende protokollierten an sieben Tagen Gefühle von emotionaler Intimität und sexuellem Verlangen, notierten also, wann sie sich dem anderen nah fühlten oder Lust auf ihn hatten. Je häufiger sie Momente emotionaler Intimität empfanden, desto häufiger verspürten sie auch sexuelles Verlangen. Dabei zeigte sich, dass dies vor allem in Langzeitbeziehungen ein wichtiger Faktor ist.

Am Anfang einer Beziehung scheint das alles easy. Frisch verliebte Paare erleben emotionale Intimität in hohen Dosen. Sie etablieren Rituale, die sich besonders anfühlen. Bei Michael und seiner Frau Birte* war es zum Beispiel der Kinobesuch am Samstagabend. Beide waren Filmfans, und einige Jahre gab ihnen dieser Abend die Sicherheit: Uns verbindet etwas. »Aber inzwischen gehen wir einfach nur noch hin, weil wir’s halt immer so gemacht haben«, erzählt Birte in der ersten Sitzung ihrer Paartherapie. »Es ist so ein Automatismus geworden«, meint auch Michael. »Und ich bin mir gar nicht mehr sicher, ob es dabei überhaupt noch um uns geht.« Er fragt sich: Sollten die ihre Rituale dann nicht einfach aufgeben?

Rituale können sehr sexy sein – es kommt darauf an, wie wir sie gestalten

Nicht so schnell, bitte! Schauen wir erst einmal, wie der Alltag aussieht. Ich habe mit Birte und Michael einen Wochenplan gemacht: Wo gab es gemeinsame Momente? Wann unternahmen sie etwas zusammen? Wie viel Zeit verbrachten sie gemeinsam?

Der Wochenplan der beiden sah auf den ersten Blick gut aus. Zweimal im Monat ins Kino, auch nach 16 Jahren, dazu gemeinsame Abendessen. Morgens vor der Arbeit zusammen frühstücken. Und doch gab es dieses Gefühl des Nur-Nebeneinanders. Obendrein kaum Zärtlichkeit; keine Lust, Sex miteinander zu erleben. Weil sich alles nur noch wie Routine anfühlte.

Rituale neu gestalten

Ich verstehe die Idee, dass die Lösung darin bestehen könnte, die Rituale einfach abzuschaffen. Dahinter steckt die Vorstellung, dass wir glücklicher werden, wenn wir unsere Beziehung jeden Tag neu erfinden. Aber das funktioniert auf Dauer nicht. Menschen brauchen Rituale: Es tut gut, wiederkehrende Momente zu haben, in denen es um die Beziehung geht. Aber es gibt feine Unterschiede, ob es sich um Rituale voller Wertschätzung oder nur um belanglose Routinen handelt. Kurzum: Rituale können sehr sexy sein – es kommt halt darauf an, wie wir sie gestalten.

Also gingen Birte, Michael und ich den Wochenplan ein zweites Mal durch. Wann fühlte sich wer wertgeschätzt? Und wo gab es körperliche Nähe? Hier fiel die Bilanz nicht so gut aus. Beide mussten ehrlich zugeben, dass sie sich weder gesehen fühlten noch körperliche Nähe erlebten. Doch dann erinnerte sich Birte an einen Tag, an dem Michael sie mit einem Essen überrascht hatte. »Da hatte er sich wirklich Gedanken gemacht.«

Hier konnten wir ansetzen. Mit einer Hausaufgabe: Was sind Überraschungen, die wirklich Spaß machen? Bedingung: Es durfte nicht länger als fünf Minuten dauern, darüber nachzudenken. Also keine Riesengeschenke oder Mega-Aktionen. Denn die sind auf Dauer unrealistisch.

Zwei Wochen später waren Birte und Michael wieder bei mir. Birte erzählte, dass sie sich freuen würde, wenn Michael sie mit einem Film überraschen würde. Er sollte aussuchen. Einfach so, ohne es vorher zu besprechen. Michael wünschte sich, Birgit sollte für ihn das Essen auswählen, wenn sie etwas bestellten.

Diese einfachen Ideen fanden beide gut. Weil sich dann einer um den anderen Gedanken macht. Natürlich kann so etwas auch schiefgehen. Was passiert, ist nicht vorhersehbar – und das ist gut so! Weil genau dadurch diese ganz besondere Intimität entsteht, die auch nach vielen Jahren noch Lust aufeinander macht – und oft auch auf Sex.

* Name von der Redaktion geändert

Und nun sind Sie dran!

Machen Sie sich fünf Minuten ausschließlich Gedanken um Ihren Partner oder Ihre Partnerin. Was gibt es, das ihm oder ihr Freude machen könnte? Welche Dinge teilen nur Sie beide? Überlegen Sie sich einen Song, eine Leckerei, eine kleine Geste! Schaffen Sie einen kleinen Moment der Wertschätzung.

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