Warkus' Welt: Wie schön, dass wir geboren sind?
Alle Menschen müssen sterben – so heißt ein Megahit der evangelischen Kirchenmusik. Doch man muss nicht gläubig oder musikalisch sein, um dieses Wissen präsent zu haben. Um sich der Vergänglichkeit des Fleisches bewusst zu werden, reicht an den meisten Tagen ein Blick in die Zeitung und an besonders schlechten vielleicht auch einer in den Spiegel.
Es ist wenig überraschend, dass sich die Philosophie an dieser Tatsache seit jeher intensiv abgearbeitet hat. Alles, was im 20. Jahrhundert Existenzphilosophie heißt oder irgendwie damit zu tun hat, beschäftigt sich zumindest am Rande auch mit dem Tod. Dafür ist führend Martin Heidegger (1889–1976) verantwortlich, dessen Hauptwerk »Sein und Zeit« (1927) unter anderem den Gedanken propagiert, dass der Weg zu einem bedeutsamen, »eigentlichen« menschlichen Dasein über die Reflexion der Gewissheit des eigenen Todes führt.
Eine ähnliche Binsenweisheit wie die, dass wir alle sterben müssen, ist aber auch jene, dass wir alle einmal geboren worden sind. Das philosophische Nachdenken über diesen Gedanken ist untrennbar verbunden mit dem Namen der Philosophin und Politikwissenschaftlerin Hannah Arendt (1906–1975), die dafür den Begriff der »Natalität« eingeführt hat (als Pendant zur Sterblichkeit, der Mortalität).
Nun war Heidegger ein Antisemit, der 1933 in Uniform eine stramm nationalsozialistische Antrittsrede als Rektor der Universität Freiburg hielt. Arendt war Jüdin, die 1933 flüchten musste, und überdies hatten beide 1924/25 in Marburg ein Verhältnis. Das an sich ist schon filmreif, und es ist schwer, der Versuchung zu widerstehen, die beiden als Denker des Todes und Denkerin des Lebens einander gegenüberzustellen. Ich will hier aber nur kurz etwas über das Geborensein schreiben und nicht über das Sterbenmüssen.
Die Geburt als Neuanfang
Was ist so besonders daran, geboren zu sein? Im eigentlichen, engeren Sinne frei zu handeln, bedeutet für Arendt immer, einen Neuanfang zu machen, etwas in die Welt zu bringen, was vorher nicht da war. Handeln ist sozusagen das Gebären unerwarteter Möglichkeiten, und Arendt unterstellt, dass Handelnkönnen und Geborensein daher eng miteinander verknüpft sind. Nicht zuletzt, weil unsere ganze menschliche Welt so eingerichtet ist, dass sie ständig »Neuankömmlinge, die als Fremdlinge in sie hineingeboren werden«, willkommen heißen kann.
Welche praktischen Folgen kann und sollte dieser Gedanke haben? Dazu gibt es eine (wenn auch kontrovers diskutierte) Antwort, die der wahrscheinlich bedeutendste lebende deutsche Philosoph Jürgen Habermas 2001 in seinem Vortrag »Die Zukunft der menschlichen Natur« gegeben hat: Wenn ein Mensch durch sein Geborensein ein Neuanfang sein und Neuanfänge machen können soll, dann muss dieses Geborensein im biologischen Sinne nicht durch Menschen, die vor ihm waren, geplant und gestaltet sein. Damit spricht sich Habermas entschieden gegen »Designerbabys« aus. Gentechnische und reproduktionsmedizinische Eingriffe, die einem Kind bereits mit der Geburt Eigenschaften mitgeben, die sich seine Eltern (oder sonst jemand) ausgesucht haben, greifen, wenn man so will, in dessen Natalität ein, und nehmen ihm schon vor dem Beginn seines Lebens einen Teil seiner Handlungsfreiheit.
Der damalige »Bioethik«-Boom ist heute ein bisschen abgeklungen, und wenn wir mittlerweile die Hände über die Zukunft der individuellen menschlichen Existenz ringen, dann tendenziell eher, weil wir den Einfluss technischer Zusammenhänge (wie etwa auf Datenspeicherung und Computernetze gestützte Überwachungs- und Manipulationstechniken) auf sie befürchten. Es lohnt sich jedenfalls, auch außerhalb direkter biotechnischer Eingriffe in die Keimbahn darüber nachzudenken, inwieweit wir als Gesellschaft das mit der Geburt ergangene Versprechen an neue Erdenbürger, echte Neuanfänge setzen zu können, wirklich einlösen.
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