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Sex matters: Wie Sexratgeber die Lust nehmen

Sexratgeber sind wie Kochbücher, sagt der Sexualtherapeut Carsten Müller: Man kann die Rezepte eins zu eins nachkochen. Aber besser schmeckt es, wenn man sie dem eigenen Geschmack anpasst. Eine Kolumne.
Ein paar Bücher liegen auf einem Tischchen, im Hintergrund ein Paar im Bett
Ein Stapel Ratgeber ist kein Garant dafür, den passenden Rat zu bekommen. (Symbolbild)

»Wir hatten das Gefühl, dass unser Sexualleben mit den Jahren irgendwie langweilig geworden war. Deswegen haben meine Frau und ich ein paar Sexratgeber gekauft und uns gegenseitig daraus vorgelesen. Wir hatten die Hoffnung, dass uns das auf neue Ideen bringen würde. Wir haben wirklich viel gelesen. Doch statt besserem Sex hatten wir auf einmal gar keinen Sex mehr. Irgendwie stecken wir jetzt in einer Sackgasse und wissen gar nicht mehr, wie es weitergehen soll.« (Khoa*, 41, und Sophie*, 42)

Sexratgeber werden überschätzt. Möglicherweise auch diese Kolumne. Nur weil der Autor oder die Autorin studiert hat, einen Doktortitel trägt oder schon mal im Fernsehen war, heißt das noch nichts. Genauer gesagt: Wenn ein Experte oder eine Expertin etwas richtig findet, bedeutet das nicht, dass es für Sie gut sein muss. Die Fachleute wollen ihre Vorstellungen von gelungener Sexualität weitergeben. Das ist gut gemeint. Aber es kann nach hinten losgehen, wie ich neulich in meiner Praxis erlebt habe.

Ein Paar kam zur ersten Stunde. Sie berichteten von einem Stapel Sexratgebern, aus denen sie sich gegenseitig vorgelesen hatten, und von dem Wunsch, ihr Liebesleben abwechslungsreicher zu gestalten. Und dann – totale Flaute. Gepaart mit völliger Ratlosigkeit darüber, was schiefgelaufen war.

Was war passiert? Mit den Ratgebern hatten die beiden eine Menge Ideen mit nach Hause gebracht, wie sie ihr Sexualleben voranbringen könnten. Mit Sexspielzeug oder Analsex, Offenheit für eine offene Beziehung, Sex mit Dritten. Reden über Fantasien, Sex im Freien oder unter Wasser. Sex planen oder einander überraschen. Grenzen austesten, aber auch respektieren. Rituale schaffen, aber auch mal etwas Neues ausprobieren. Viel Stoff, einige Widersprüche und ein Effekt: Die beiden wussten plötzlich nicht mehr, was für sie richtig ist.

Beide standen so unter Druck, dass nichts mehr ging

In unserer ersten Sitzung erzählten sie, wie verunsichert sie waren. Sie fragten sich, ob sie überhaupt noch Sex wie früher haben konnten. Im Lauf des Gesprächs stellte sich heraus: Die beiden hatten nach der Lektüre nicht darüber gesprochen, wie sie selbst zu dem standen, was sie gelesen hatten. Irgendwie gingen sie davon aus, dass das, was in den Ratgebern stand, genau so umgesetzt werden müsse.

In einem Buch war zu lesen, dass es gut sei, etwas Neues auszuprobieren. Zum Beispiel Analsex. Deshalb hatte die Frau Angst, dass sie dazu bereit sein müsse – obwohl sie eigentlich keine Lust darauf hatte. Ihr Mann wiederum fühlte sich unter Druck, weil er dachte, etwas Neues könne nur eine offene Beziehung oder ein Dreier sein. Plötzlich hatten beide das Gefühl, dieses oder jenes tun zu müssen. Das setzte sie so unter Druck, dass nichts mehr ging.

So ist es natürlich nicht gedacht. Sexratgeber sollen neue Räume eröffnen, doch jedes Paar darf sie auf seine Weise füllen. Dafür braucht es Gespräche über individuelle Vorlieben und Abneigungen. US-Forscherinnen und -Forscher der University of Delaware haben untersucht, wie sich Offenheit und Kommunikation auf das Sexualleben auswirken. Ergebnis: Sie tragen dazu bei, dass der Einzelne mehr von dem bekommt, was ihm Lust macht. Kommunikation steigert das sexuelle Vergnügen, und das Offenbaren sexueller Vorlieben fördert Intimität und die Zufriedenheit in der Beziehung.

Meinem Klientenpaar habe ich folgende Aufgabe gestellt: Nennen Sie aus den Ratgebern drei Ideen zum Thema »Neues ausprobieren«, die Sie wirklich gerne umsetzen würden – nicht, weil sie da stehen, sondern weil sie für Sie persönlich stimmig sind. Als die beiden ihre Notizen verglichen, gab es eine Übereinstimmung. Beide fanden die Idee gut, sexy Unterwäsche auszuprobieren. Das war eine große Erleichterung. Nun verstanden sie Ratgeber nicht mehr als Anleitung, sondern als Anregung, die sie frei interpretieren durften. Ihre wichtigste Erkenntnis: Wir definieren gemeinsam, was wir als Paar wollen.

Braucht es überhaupt Sexratgeber?

Sexratgeber sind wie Kochbücher. Man kann die Rezepte eins zu eins nachkochen. Aber was nützt das, wenn meiner Frau und mir das gelbe Curry schnell zu scharf wird und ich einfach keine gekochte Paprika mag? Dann ergibt es doch viel mehr Sinn, nur die halbe Menge Currypulver zu nehmen und die Paprika roh zu essen. Wichtig ist, dass am Ende ein Gericht herauskommt, das uns beiden schmeckt.

Braucht es dann überhaupt Sexratgeber? Auch über diese Frage haben wir in der Beratung gesprochen, denn schließlich ging es darum, wie sie weiter mit dem Thema umgehen wollten. Hatten ihnen die Ratgeber irgendetwas gebracht außer Frust und Verwirrung? Darauf antworteten beide eindeutig mit Ja. Die Ratgeber hatten dafür gesorgt, dass sie nun mehr über ihr Sexualleben sprachen und nachdachten.

Sexratgeber haben dann ihren Wert, wenn Menschen sich darüber austauschen. Sie sollten dabei allerdings auf dem gleichen Stand sein. Bei meinen Klienten gab es eine Phase, in der die Frau beim Joggen regelmäßig Sex-Podcasts hörte. Sie bekam also Ideen, von denen ihr Mann keine Ahnung hatte. Er kam sich blöd vor, fühlte sich außen vor. Also einigten wir uns darauf, dass sie ihrem Mann künftig die Links zu den Podcasts schicken würde.

Wenn Menschen Sexratgeber lesen oder hören, sammeln sie Informationen, sie interpretieren sie und beziehen sie auf sich. Wenn Paare das gemeinsam tun, dann gelingt es ihnen besser, die Anregungen ins eigene Leben zu übersetzen. Die Verantwortung liegt bei ihnen.

Auch ich habe als Sexualtherapeut nur meinen Blickwinkel. Als Leserin oder Leser haben Sie die Möglichkeit, sich zu überlegen: Wie finde ich das, was Carsten Müller vorschlägt? Sie sind frei, Ihren eigenen Weg zu gehen. Ratgeber sollen nur informieren und inspirieren. Den Rest machen Sie.

Und nun sind Sie dran!

In dieser Kolumne habe ich über zahlreiche Themen rund um Sexualität und Partnerschaft geschrieben. Eine Übersicht finden Sie hier: »Sex matters«. Suchen Sie sich ein Thema heraus, das Sie interessant finden. Schicken Sie den Link an Ihren Partner oder Ihre Partnerin. Sprechen Sie darüber und überlegen Sie gemeinsam: Welche Ideen finden wir interessant, was passt für uns nicht, und wie würden wir die Kolumne für uns ganz persönlich übersetzen?

* Namen von der Redaktion geändert

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