Hirschhausens Hirnschmalz: Unterlassene Hilfeleistung
Eine aufgeregte Mutter kommt mit ihrem Dreijährigen in die Notfallambulanz. Der Junge hatte – neugierig, wie Kinder in dem Alter sind – im Badezimmer einen Kulturbeutel mit homöopathischen Globuli entdeckt und alle Zuckerkügelchen auf ex geschluckt. Die Mutter: »Herr Doktor, was soll ich nur tun?« Der Arzt beruhigt: »Heute am besten nichts Süßes mehr geben.«
Wahrscheinlich fand die Mutter das gar nicht lustig. Und auch manche Leser werden das Fazit einer aktuellen Studie zu alternativen Heilverfahren bei Krebs nicht mögen. Aber es ist halt nicht alles lustig in der Medizin. Und sanfte Medizin hat harte Seiten, sobald es um lebensbedrohliche Erkrankungen geht. Das wohl berühmteste Beispiel ist Steve Jobs. Der starb an einer seltenen Form von Bauchspeicheldrüsenkrebs. Als er die Diagnose bekam, rieten die Ärzte, er solle sich sofort operieren lassen, doch Jobs lehnte ab, weil er es mit Alternativmedizin versuchen wollte. Er stellte seine Ernährung um, trank Smoothies und lebte total gesund. Nur den Tumor interessierte das nicht. Er wuchs, streute, und als Jobs acht Monate später in die OP einwilligte, war einer der genialsten Erfinder trotz allen Geldes der Welt und der besten Ärzte nicht mehr zu retten.
Ein Team um James Yu von der Yale School of Medicine suchte in einer der größten Datenbanken nach Patienten, die einen nicht gestreuten Brust-, Lungen-, Prostata- oder Darmkrebs hatten und neben der ärztlichen Behandlung noch eine alternativmedizinische nutzten. Ging es den Patienten besser? Vielleicht subjektiv. Aber unter dem Strich starben von denen, die auch auf Alternativmedizin setzten, deutlich mehr in den ersten fünf Jahren nach der Diagnose.
Aprikosenkerne, Ozon und energetisiertes Wasser schaden selten direkt. Gefährlich wird es, wenn das Herumdoktern wertvolle Zeit kostet oder eine wirksame Therapie unterbleibt. Krebs geht nicht weg durch Aprikosenkerne. Wenn es so einfach wäre, hätte sich das doch längst herumgesprochen! Und keine Pharmalobby könnte den Siegeszug des Obstes verhindern. Aber es ist leider nicht so einfach. Je ernster die Erkrankung, desto genauer sollte man überlegen, auf Basis welcher Informationen und Überzeugungen man seine Entscheidung fällt. Selbstüberschätzung ist gefährlich – auf allen Seiten: bei Ärzten, Wunderheilern und Patienten.
Und ebenso gilt: Schlechte Schulmedizin ist gefährlicher als schlechte Alternativmedizin. Unnötigerweise die Hand aufzulegen, ist weniger dramatisch, als jemanden unnötig zu operieren. Die falschen Globuli zu geben, macht weniger aus als eine falsche Bluttransfusion. Aber es kann auch tödlich sein, jemandem die Hoffnung auszureden.
Ich verstehe die Sehnsucht nach einem Behandler, der sich Zeit nimmt und empathisch ist. Jeder Patient will selbst etwas zu seiner Heilung beitragen. Die »Schulmedizin« hat dieses Bedürfnis zu lange ignoriert. Auch das ist für mich unterlassene Hilfeleistung. Also: Reden. Aufklären. Und berechtigte Hoffnung und Perspektive geben. In der richtigen Dosis.
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