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Artensterben: Wir dürfen die Insektenkrise nicht ignorieren

Das Artensterben hat die Insekten erfasst - ihr Verschwinden wird mit einem Achselzucken quittiert. Dabei hängen wir stark von ihnen ab. Wir müssen sie schützen, fordert der Biologe Axel Hochkirch von der Universität Trier.
Schmetterlinge in einer Museumssammlung

Die von der Weltnaturschutzunion (International Union for Conservation of Nature, kurz IUCN) herausgegebene Rote Liste gefährdeter Arten, die ich mit erstellt habe, klassifiziert momentan lediglich 394 Insektenarten als ausgestorben. Diese Zahl ist geradezu lächerlich niedrig, und man könnte fast darauf wetten, dass allein in der vergangenen Woche mehrere Dutzend Kerbtierspezies verschwunden sind.

Niemand weiß genau, wie viele Arten wirbelloser Tiere unserem Planeten verloren gehen, doch Schätzungen zufolge sind es 1 bis 100 pro Tag. Diese alarmierenden Zahlen gehen uns jedoch nicht wirklich zu Herzen. Es ist eher so, als würden wir die Anzahl der Todesopfer eines Kriegs zur Kenntnis nehmen, ohne die Gesichter der Gefallenen zu sehen. Welche Spezies sind es, die gerade verschwinden? Steigt oder sinkt die Aussterberate? Welche Auswirkungen hat das? Die Antwort auf jede dieser Fragen ist gleichermaßen beunruhigend: Wir haben keine Ahnung.

Schmetterlingsflügel | Symbolbild für die Insektenkrise? Ein abgerissener Schmetterlingsflügel liegt am Boden – und kümmert wahrscheinlich nur wenige Menschen.

Wir müssen die Wirbellosen erhalten – nicht nur, weil diese Tiere wertvolle Dienste wie Bestäubung, Schädlingsbekämpfung und Förderung von Nährstoffkreisläufen innerhalb der Ökosysteme leisten, sondern auch, weil auf der Erde jede einzelne Art ihre Daseinsberechtigung hat. Viele Wirbellose zeichnen sich durch ganz erstaunliche Entwicklungsgeschichten und Lebenszyklen aus und sind ebenso "charismatisch" wie größere Tiere. Nur wenige Menschen wissen vielleicht von den kunstvollen Balzgesängen und Tänzen, mit denen zahlreiche Heuschrecken um ihre Partner werben – und einfach wunderschön anzuschauen sind.

Hinsichtlich der Beurteilung und des Schutzes von Arten wurden bereits Zielsetzungen formuliert. Das so genannte Barometer des Lebens der IUCN soll dazu dienen, bis 2020 den Erhaltungszustand von 45 000 wirbellosen Arten zu bewerten. Darüber hinaus vereinbarten die Vertragsparteien der Biodiversitätskonvention (Convention on Biological Diversity) ganz allgemein, dass sie versuchen, den Verlust an biologischer Vielfalt bis zum Jahr 2020 aufzuhalten; die diesbezüglichen Fortschritte werden auf einer Konferenz im Dezember 2016 diskutiert.

Die Bewahrung globaler Biodiversität sollte dieses Geld wert sein

Nichts dergleichen wird jedoch passieren, wenn sich die Erhaltung Wirbelloser weiterhin auf die Arbeit von Freiwilligen stützt, die den Status eines Großteils der Insekten bewerten. Dies ist eine ernste Angelegenheit, die besondere und professionelle Aufmerksamkeit erfordert. Regierungen, Förderer der Wissenschaft sowie Umweltverbände müssten in ein großes Zentrum – oder besser noch mehrere – für die Erhaltung Wirbelloser investieren, wo sachkundige Entomologen daran arbeiten, Arten zu beschreiben, deren Verbreitung, Ökologie und Gefährdung zu erforschen sowie den Erhaltungszustand zu bewerten. Ein wesentliches Ziel bestünde zudem darin, die Zusammenarbeit mit Basisgruppen vor Ort zu suchen, um Maßnahmen zu fördern und zu leiten, Kapazitäten aufzubauen und ein Bewusstsein für die globale und nationale Bedeutung wirbelloser Tiere zu schaffen.

Der Aufbau eines derartigen Forschungszentrums würde mit großer Wahrscheinlichkeit 10 bis 15 Millionen Euro kosten und für den Unterhalt weitere 20 Millionen Euro pro Jahr benötigen. Diese Beträge sind mit den Budgets ähnlicher, an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Politik angesiedelter Institute vergleichbar – etwa dem Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung, dessen jährlicher Finanzmittelbedarf rund 22 Millionen Euro beträgt. Die Bewahrung globaler Biodiversität sollte dieses Geld wert sein. Außerdem ist es wichtig, dass Länder in der Lage sind, die weltweiten Zielvorgaben zur Arterhaltung erfüllen zu können.

Tatsächlich sind Staaten bereit, in den Artenschutz zu investieren – das 2014 ins Leben gerufene 20-Millionen-Euro-Projekt zur Erhaltung des Tigers, welches von der deutschen, staatseigenen KfW-Bank finanziell unterstützt wird, dient als Beweis. Auch wenn der Status des Tigers immer noch Anlass zur Besorgnis gibt, werden intensive Schutzbemühungen voraussichtlich zur Bewahrung dieser Tierart beitragen. Viele "Tiger Beetles" (zu Deutsch: Sandlaufkäfer) hingegen könnten aussterben, ohne dass jemand Notiz davon nähme.

Naturschützer sollten ebenfalls bei Unternehmen Unterstützung suchen, die auf wirbellose Tiere angewiesen sind – etwa zur Bestäubung von Pflanzen, zur Herstellung chemischer Verbindungen oder sogar als Inspiration für Marken oder Logos – und in diesem Bereich Finanzmittel mobilisieren.

Das Verschwinden Wirbelloser geschieht auch deshalb unbemerkt, weil sich in den meisten Fällen nur sehr wenige Experten mit den jeweiligen Insektengruppen beschäftigen: In vielen Regionen und bei einigen Kerbtierformen ist die Zahl der Forscher sogar gleich null. Obwohl laut Roter Liste der IUCN bislang rund 18 000 Wirbellosenarten vom Aussterben bedroht sind, liegen bei fast einem Drittel unzureichende Daten vor. Bei vielen Spezies fehlt seit ihrer Erstbeschreibung jegliche weitere Dokumentation, und wir haben keinerlei Ahnung, ob diese Spezies überhaupt noch existieren.

Diese enormen Wissenslücken sind Besorgnis erregend, denn wir können nur bewahren, was wir auch kennen. Die Menschheit gibt Unmengen von Geld auf der Suche nach Leben im Weltraum aus, aber noch nicht einmal ein Zehntel aller auf der Erde vorkommenden Arten sind bisher beschrieben worden.

Dieser Beitrag erschien zuerst als "The insect crisis we can’t ignore" in Nature 539.

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