Storks Spezialfutter: Wir hätten es alle wissen können
Auf den ersten Blick sind Pandemien große Gleichmacher, die alle Menschen treffen können, egal ob reich oder arm, mächtig oder marginalisiert. Als die Pest Mitte des 14. Jahrhunderts etwa ein Drittel der europäischen Bevölkerung dahinraffte, fielen ihr auch Adelige und wohlhabende Kaufleute zum Opfer. Doch auf den zweiten Blick bleibt von der Gleichheit nicht allzu viel übrig. Die Angehörigen der Oberschicht hatten bessere Chancen, der Seuche zu entkommen. Weil sie in weniger beengten Verhältnissen lebten, aufs sicherere Land fliehen konnten, weil die medizinische Versorgung und die hygienischen Bedingungen für sie besser waren.
Covid-19 ist weniger tödlich als die Pest, zeigt aber das gleiche Klassenbewusstsein. Die Proteste der Black-Lives-Matter-Bewegung sind auch deshalb so stark, weil Schwarze in den USA von der Pandemie überproportional betroffen sind: häufiger erkranken, häufiger sterben, häufiger arbeitslos werden. Die Proteste ebben nicht ab, weil niemand ernsthaft leugnen kann, dass die Ungerechtigkeit schon im System steckt. Und weil niemand davon ernsthaft überrascht sein kann.
In diesen Tagen hat ein Corona-Ausbruch in Deutschlands größtem Schlachthof dafür gesorgt, dass die Reproduktionszahl auf einen kritischen Wert über zwei hochgeschnellt ist. Bei der Tönnies Holding in Rheda-Wiedenbrück haben sich mehr als 1500 Beschäftigte mit dem Coronavirus infiziert. Der Großteil davon sind Leiharbeiter aus Rumänien, Bulgarien und anderen osteuropäischen Ländern, die – wie die Berichte deutlich zeigen – unter oft prekären Bedingungen in Massenunterkünften hausen. Es ist kein Zufall, dass der heftigste Corona-Ausbruch seit Monaten die Arbeitsmigranten trifft. In ihren überfüllten Wohnungen haben sie keine Chance, den Mindestabstand einzuhalten oder die Hygieneregeln zu befolgen. Gut möglich auch, dass, wer sich krank fühlt, trotzdem zur Arbeit geht.
In »Storks Spezialfutter« geht der Umweltjournalist Ralf Stork diesen Fragen einmal im Monat auf den Grund.
Wenn sich die Behörden und Tönnies an alle Vorschriften gehalten hätten und alle Kontrollen richtig ausgeführt hätten, hätte Nordrhein-Westfalen nicht über einen neuen Lockdown nachdenken müssen. Der größte Skandal ist aber nicht das offensichtliche Versagen der Kontrollinstanzen. Schwerer wiegt, dass niemand wirklich von den Zuständen in der Fleischindustrie überrascht sein kann. Sie sind seit vielen Jahren bekannt. Dass mehrere zehntausend Osteuropäer in Deutschland über dubiose Subunternehmen in der Fleischindustrie die Arbeit machen, die kein anderer machen will, ist kein Geheimnis. Ihre prekären Lebensbedingungen auch nicht. Der Pfarrer Peter Kossen, aktuell einer der sichtbarsten Kritiker der Großfleischereien, demonstriert seit Jahren gegen die Ausbeutung der Arbeitsmigranten. Nicht selten stand er dabei allein vor dem Werktor eines Schlachtbetriebs.
Schon 2013 hat er unter anderem in einem Interview für die Gewerkschaft ver.di auf die zum Teil miesen Bedingungen in der Fleischindustrie hingewiesen: »Caritas-Sozialberaterinnen haben mir von Frauen aus Rumänien und Bulgarien berichtet, die als Beschäftigte von Subunternehmen in hiesigen Schlachthöfen arbeiteten. Sie waren unter Bedingungen untergebracht, die ich bis dahin nur aus dem Geschichtsunterricht kannte, als es um die Zeit der industriellen Revolution ging. Die Menschen mussten in heruntergekommenen, überfüllten Häusern im Drei-Schicht-System schlafen und dafür Wuchermieten bezahlen«, sagte er damals schon.
Fließbandarbeit unter härtesten Bedingungen
Offensichtlich hat sich an den Zuständen bis heute nichts Grundlegendes geändert. Was nur folgerichtig ist: Der Fleischhunger der Deutschen ist ungebrochen. Der geschätzte Pro-Kopf-Verzehr liegt bei knapp 60 Kilo im Jahr. Rund 20 000 Schweine werden allein bei Tönnies in Rheda-Wiedenbrück täglich geschlachtet. Das ist Fließbandarbeit unter den allerhärtesten Bedingungen. In einem System, das auf Massentierhaltung, Massenproduktion und Massenverarbeitung setzt, um Schweinebraten für vier Euro das Kilo anbieten zu können, müssen Mensch und Tier fast zwangsläufig leiden.
Vor 30 oder 40 Jahren war die Welt noch schön übersichtlich. Da kam das Fleisch im Zweifel noch direkt vom Fleischer des Vertrauens aus dem Ort, in dem man wohnte, und die Metzgergesellen kannte man noch aus der Grundschule. Heute ist die ganze Welt ein globalisiertes Dorf, in dem Rumänen in Rheda-Wiedenbrück Schweine für den Export nach China schlachten. Trotzdem war es für viele noch nie so leicht wie heute, mündiger Verbraucher zu sein. Für eine erste Einschätzung zu Fragen von Nachhaltigkeit und fairen Produktionsbedingungen reicht meist der gesunde Menschenverstand. Auf solide weiterführende Informationen stößt man schon nach kürzester Internetrecherche.
Die Produkte der Großschlachtereien werden auch weiterhin reißenden Absatz finden. Nur kann sich jetzt erst recht niemand mehr darauf herausreden, er hätte nicht gewusst, dass auch Billigfleisch seinen Preis hat. Den zahlen in diesem Fall eben die Billigarbeitnehmer aus dem Osten.
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