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Springers Einwürfe: Darf's ein bisschen mehr sein?

Angesichts eines Problems neigen wir dazu, es durch zusätzliche Ad-hoc-Maßnahmen zu komplizieren. Dabei gäbe es oft eine einfachere Lösung.
Ein Haufen Restmüll türmt sich vor einer leidlich romantischen Agrarlandschaft

Mathematisch betrachtet sind Addition und Subtraktion gleichrangige Grundrechenarten. Doch im wirklichen Leben fügen wir anscheinend lieber etwas hinzu, als etwas wegzunehmen. Was man hat, das hat man – obwohl manchmal weniger mehr gewesen wäre.

Ein Team um die Sozialpsychologin Gabrielle S. Adams von der University of Virginia hat Versuchspersonen mit höchst unterschiedlichen Problemen konfrontiert und ihr Lösungsverhalten studiert. So galt es etwa, eine wacklige Legokonstruktion zu stabilisieren, ein Farbmuster symmetrisch zu gestalten oder eine Minigolfbahn attraktiver zu machen. Obwohl das Hinzufügen von Objekten in jedem Fall Spielgeld kostete, bevorzugten die meisten Testteilnehmer eine additive Lösung: Sie bauten stützende Legosteine ein; sie fügten Farbfelder hinzu, um Symmetrie zu erzielen; und sie setzten zusätzliche Hindernisse vor das Minigolfloch.

Dabei hätte es für jedes Testproblem eine elegante Lösung gegeben – durch das Wegnehmen von Bauteilen beziehungsweise von Farbfeldern oder von Bahnhindernissen. Doch selbst wenn man sie eigens auf die Möglichkeit des Subtrahierens hinwies, blieben die meisten lieber beim Addieren.

Zu großen Spekulationen über die Ursachen ließen sich die Autorin der Studie und ihre drei Koautoren nicht hinreißen, wohl aber über denkbare Folgen. Bei­spielsweise könnte man damit einen quasi natürlichen Trend zur Bürokratisierung erklären, dessentwegen etwa Steuergesetze durch Bestimmungen ergänzt werden, statt sie ein für alle Mal grundlegend zu ver­einfachen. Auch der Anstieg der globalen Umweltbe­lastung hat, wie die Forscher anmerken, wohl viel mit unserem additiv-expansiven Wirtschaften zu tun.

Auf Überfrachtung programmiert

Aber woher mag diese offenbar tief sitzende Prägung kommen, die uns nahelegt, Probleme lieber mit immer komplexeren Zusätzen zu versehen, als sie durch elegante Vereinfachung aus der Welt zu schaffen? Eine mögliche Antwort könnte daran erinnern, dass in der langen Menschheitsgeschichte bis vor kurzer Zeit extremer technologischer Mangel herrschte, der die Individuen auf das bloße Sammeln und notdürftige Bearbeiten von Naturobjekten einschränkte. Der französische Anthropologe Claude Levi-Strauss charakterisierte dieses »wilde Denken« 1962 als Bastelei (französisch: bricolage): ein Improvisieren mit mehr oder weniger zufällig vorgefundenem Material, das nie im Überfluss zur Verfügung stand. Kein Wunder also, dass selbst noch der moderne Nachfahre eher aufs Sammeln programmiert ist als aufs Weglassen. Heutzutage scheint uns eine spezielle Ratgeberliteratur sogar eigens beibringen zu müssen, wie man sein Leben vereinfacht, indem man sich von dem trennt, was man nicht mehr braucht.

Noch grundsätzlicher von Bastelei (englisch: tinkering) sprach François Jacob in dem Aufsatz »Evolution and Tinkering«. Darin vergleicht der französische Medizin-Nobelpreisträger die Entwicklung des Lebens mit der Tätigkeit eines Pfuschers, der an bereits vorhandenem Zeug ziellos herumprobiert, aber nie etwas aktiv wegwirft. So entstehen neben allerlei unbrauchbarem Plunder, der von selbst ausstirbt, hin und wieder neue Lebensformen: »Die Evolution erzeugt Neuheiten nicht aus dem Nichts. Sie arbeitet mit dem, was schon da ist, indem sie entweder ein System mit neuen Funktionen ausstattet oder mehrere Systeme kombiniert, um ein komplexeres zu schaffen.«

So betrachtet scheint das Leben selbst eine Vorliebe für additive Vermehrung zu haben und eine – aus Mangel und Armut geborene – Scheu vor subtraktiver Vereinfachung. Über den Schatten dieses biologischen Erbteils müssen wir wohl springen, um manche Probleme besser in den Griff zu bekommen.

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