Springers Einwürfe: Erlahmt die Forschung?
Hat die Innovationskraft der Wissenschaft in den vergangenen Jahrzehnten drastisch abgenommen? Das behaupten Russell J. Funk und Michael Park von der University of Minnesota in Minneapolis sowie Erin Leahey von der University of Arizona in Tucson, die 45 Millionen Artikel und fast 4 Millionen Patente seit 1950 danach bewerteten, wie »disruptiv« sie sich auf den Forschungsprozess auswirkten. Gemeint sind damit Resultate, die nicht bloß etabliertes Wissen konsolidierten oder erweiterten, sondern ihrem Feld eine überraschend neue Richtung gaben – wie beispielsweise anno 1953 die Entdeckung der DNA-Doppelhelix. Als Indikator für die disruptive Wirkung eines Artikels werten die US-Soziologen, ob danach in der Fachwelt fast nur noch dieser zitiert wird, während das Erwähnen älterer einschlägiger Arbeiten bald unterbleibt.
Bevor die schockierte Öffentlichkeit nun angesichts des vermeintlichen Niedergangs menschlicher Geisteskraft in Trübsal versinkt, kann sie sich damit trösten, dass die Menge innovativer Artikel in absoluten Zahlen über die Jahre ziemlich gleich geblieben ist – freilich vor dem Hintergrund eines exponentiellen Wachstums wissenschaftlicher Publikationen insgesamt. Richtig ist also, dass der Forschungsaufwand in den letzten Jahren enorm gestiegen ist.
Das gilt schon rein technisch: Das Neutron wurde 1932 mit handlichem Laborgerät entdeckt, während der Nachweis des Higgs-Bosons 80 Jahre später den größten Teilchenbeschleuniger der Welt erforderte. Das Gleiche trifft personell zu: Die Zeit, als der einsame Angestellte eines Patentamts mit Papier und Bleistift die Physik seiner Zeit komplett auf den Kopf zu stellen vermochte, ist wohl ein für alle Mal vorbei. Kein Einzelner könnte heutzutage auch nur entfernt so innovativ forschen wie internationale Kooperationen, etwa die Hundertschaften, welche die Gravitationswellenastronomie weiterentwickeln.
Grabgesänge auf die Grundlagenforschung sind nichts Neues. Aufsehen erregte 1996 der Journalist John Horgan, damals eine Edelfeder unserer Mutterzeitschrift »Scientific American«, mit seinem Buch »The End of Science«. Darin sagte er voraus, in den Sparten Teilchenphysik, Evolutionsbiologie und Hirnforschung seien keine großen Entdeckungen mehr zu erwarten.
Aber gibt ihm die zitierte Studie nicht Recht? Nein. Das Disruptive an der Wissenschaft verschwindet bloß zum Schein, während in Wirklichkeit sie selbst sich radikal – meinetwegen disruptiv – wandelt. Es stimmt schon, der Aufwand an Geräten und Fachleuten ist so immens gewachsen, dass das überraschend Neue darunter kaum zum Vorschein kommt. Außerdem können Laien, und das sind schon die Kollegen außerhalb des engen Spezialgebiets, das Spektakuläre eines Resultats oft nur schwer erkennen.
Was sagt mir, der einst von demselben Gymnasiallehrer wie Nobelpreisträger Anton Zeilinger zum Studium der Physik motiviert wurde, ein Titel wie »ATG9A prevents TNF cytotoxicity by an unconventional lysosomal targeting pathway« oder »ApoE isoform- and microbiota-dependent progression of neurodegeneration in a mouse model of tauopathy«? Mit Mühe ahne ich, dass das eine mit Krebsforschung zu tun hat, das andere mit dem Kampf gegen die Alzheimerkrankheit, doch sonst verstehe ich beide Male nur Bahnhof.
Die mathematische Physik versprach mir seinerzeit den Zugang zu allen Fachgebieten, als wäre sie die Lingua franca einer Einheitswissenschaft. Chemie, Biologie, Technik, alles nur angewandte Physik! Inzwischen haben sich die größten Überraschungen allerdings in die Biowissenschaften verlagert, in die Festkörperphysik und in die Simulation der Intelligenz. Da kommt ein einfacher Physiker kaum mehr mit. Aber mit einem Versiegen der Innovationskraft ist dieses staunenswert vielfarbige Feuerwerk gewiss nicht zu verwechseln.
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