Freistetters Formelwelt: Wo Mathematiker vergeblich nach Orientierung suchen
Also, was ist nun groß, grau, nicht orientierbar und schwimmt im Meer? Die Antwort lautet: »Möbius Dick«. Um über den Witz lachen zu können, muss man vor allem verstehen, was mit dem Ausdruck »nicht orientierbar« gemeint ist. So beschreibt man in der Mathematik eine Fläche, die nur eine Seite und eine Kante hat; also eine Fläche, bei der man nicht unterscheiden kann, wo innen und außen beziehungsweise oben und unten ist.
Diese Formel beschreibt (in Zylinderkoordinaten) genau so eine Fläche:
Das wirklich Überraschende daran ist aber die Tatsache, dass man so etwas auch in der Realität ganz leicht selbst basteln kann. Dazu braucht man nur einen ausreichend langen Papierstreifen, dessen Enden man so zusammenklebt, dass ein Ring entsteht. Zuvor muss man aber ein Ende in Bezug auf das andere um 180 Grad drehen. Man erhält eine Fläche, die tatsächlich nicht orientierbar ist. Wer daran zweifelt, kann gerne probieren, die Innen- und Außenseite des Bands farblich unterschiedlich zu markieren. Und wird zwangsläufig scheitern: Diese spezielle Figur hat unzweifelhaft nur eine Seite. Beginnt man auf der »einen Seite« mit dem Färben und arbeitet sich entlang des Rings vor, wird man am Ende immer das komplette Band bemalt haben und nie auf eine »andere Seite« stoßen, die man andersfarbig markieren könnte.
Benannt ist diese Fläche nach dem deutschen Mathematiker August Ferdinand Möbius, der Professor für Astronomie an der Universität Leipzig und danach bis zu seinem Tod im Jahr 1868 Professor für Höhere Mechanik und Astronomie der Universität Jena war. Beschäftigt hat er sich aber vor allem mit Mathematik und beschrieb dabei im Jahr 1858 die heute nach ihm benannte Figur, das »Möbiusband«. Unabhängig von (und wahrscheinlich sogar ein wenig vor) ihm tat das auch der Göttinger Mathematiker Johann Benedict Listing – aber wie so oft in der Wissenschaft hat eine Person allen Ruhm geerntet, und die andere wurde vergessen.
Ein Möbiusband ist ein wunderbares Spielzeug mit faszinierenden Eigenschaften. Schneidet man es in der Mitte entlang der Längsachse auseinander, bekommt man nicht etwa zwei Ringe, sondern ein einziges Band, das nun aber doppelt so groß ist. Was passiert, wenn man das Band entlang der langen Achse drittelt und zerschneidet, möchte ich nicht verraten, aber die Leserschaft ist gerne aufgerufen, es selbst auszuprobieren und das unerwartete Ergebnis zu betrachten.
Möbius' seltsame Figur hat nicht nur die Mathematik beeindruckt, sondern auch und vor allem die Kunst. Berühmt sind die Möbius-Bilder des niederländischen Grafikers M.C. Escher; die Idee der nicht orientierbaren Fläche findet man aber auch in der Sciencefiction-Literatur oder in Kinofilmen. Das Band taucht im Logo der Deutschen Mathematiker-Vereinigung auf, ebenso wie – etwas unerwartet – in dem des Bundesinnungsverbands der Gebäudedienstleister. Man hat eine Variante des Schachs entwickelt, bei der das Spielbrett die Form eines Möbiusbands besitzt, und Getriebe, deren Riemen nur eine Seite haben. Für den kommenden Winter kann man sich einen Möbius-Schal stricken, der zwar nicht besser wärmt als ein konventioneller, aber auf jeden Fall die Freunde der Mathematik beeindrucken wird.
Sogar in der Natur findet man es bei manchen pflanzlichen Peptiden: Die »Möbius-Zyklotide« sind Ketten aus Aminosäuren, die sich zu einem Möbiusband zusammenschließen. In experimentellen Kernfusionsreaktoren wird das heiße Plasma durch Magneten auf eine Möbiusbahn gezwungen, und beim Videospiel »Mario Kart 8« kann man Rennen auf einer nicht orientierbaren Fahrbahn absolvieren.
Egal wie oft man es mit dieser Fläche zu tun hat: Sie überrascht einen immer wieder, und man tut sich schwer zu glauben, dass so etwas tatsächlich existiert. Und wenn man sich dann doch einmal daran gewöhnt hat, trifft man auf eine »kleinsche Flasche«, und alles wird noch schlimmer. Aber das ist eine andere Geschichte …
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