Freistetters Formelwelt: Der unbewiesene Beweis
Die Mathematik hat einen großen Vorteil. Sie kann Aussagen treffen, die mit absoluter Sicherheit richtig sind. In der Physik oder der Astronomie kann man nur Hypothesen aufstellen und diese dann entweder widerlegen oder verifizieren. Doch selbst eine verifizierte Hypothese kann irgendwann durch eine neue Hypothese ersetzt werden. Unsere aktuelle Beschreibung der Gravitationskraft im Rahmen der allgemeinen Relativitätstheorie hat die frühere Theorie von Isaac Newton ersetzt und wird früher oder später durch eine noch umfassendere Theorie ersetzt werden. Ein mathematischer Satz dagegen bleibt für alle Zeiten korrekt – vorausgesetzt natürlich, seine Korrektheit kann mathematisch exakt bewiesen werden.
In der Praxis ist die Angelegenheit allerdings längst nicht so klar. Da sind sich die Mathematikerinnen und Mathematiker nicht immer einig, was als "Beweis" gilt und was nicht. Zum Beispiel bei dieser Formel:
Es handelt sich um die berühmte "abc-Vermutung". Um zu verstehen, worum es dabei geht, muss man sich mit dem "Radikal" einer Zahl beschäftigen (die Funktion "rad" in der Formel). Man berechnet es aus dem Produkt der unterschiedlichen Primfaktoren einer Zahl. Die Zahl 18 lässt sich beispielsweise als Produkt der Primzahlen 2 und 3 schreiben: 18 = 2 x 3 x 3. Das Radikal ist dann folglich 2 x 3 = 6.
Die abc-Vermutung beschreibt nun die Eigenschaften von drei positiven ganzen Zahlen a, b und c, für die a+b=c gilt und die außerdem teilerfremd sind: Es gibt also keine natürlichen Zahlen außer der 1, die alle drei Zahlen teilen. Ist das der Fall, dann behauptet die Vermutung, dass die größte unter ihnen (c) "kaum größer" sein kann als das Produkt aller in den drei Zahlen auftretenden Primfaktoren. "Kaum größer" heißt genauer: meistens gar nicht größer, und die wenigen Ausnahmefälle lassen sich durch geeignete Wahl der Konstanten \epsilon und d_\epsilon abfangen.
Das klingt alles sehr abstrakt und ist es auch. Unseren Alltag berührt die abc-Vermutung nicht. Aber für die Mathematik sind solche Aussagen von großer Bedeutung. Es geht hier um die Eigenschaften der Zahlen selbst. Ein Beweis, dass die abc-Vermutung richtig ist, hätte große Auswirkungen auf viele andere Bereiche der Mathematik (das Gleiche gilt für eine Widerlegung der Vermutung). Wegen ihrer enormen Tragweite für die Theorie der Zahlen gilt die abc-Vermutung seit 1985, als sie aufgestellt wurde, als eine der wichtigsten offenen Fragen in der Mathematik. Als dann 2012 der Japaner Shin'ichi Mochizuki einen Beweis der Vermutung veröffentlichte, war die Resonanz gewaltig.
Ein mathematischer Beweis muss jedoch erst einmal geprüft werden. Jeder einzelne logische Schritt darin muss korrekt sein; jede Annahme begründet werden, denn es reicht schon ein einziger Fehler, und der komplette Beweis ist ungültig. Das gilt ganz besonders dann, wenn der Beweis – so wie im Fall von Mochizuki – Hunderte von Seiten umfasst. Eine solche Prüfung braucht Zeit, und man muss tief in die Materie eindringen, um alle Argumente verstehen und ihre Gültigkeit bewerten zu können. Bei Mochizukis Beweis ist das genau das Problem: Die von ihm verwendete Methode ist so unkonventionell, dass sie außer von ihm selbst von kaum jemandem verstanden wird. Gerd Faltings, der einzige deutsche Träger der Fields-Medaille – der höchsten Auszeichnung, die die Mathematiker zu vergeben haben –, kommentierte Mochizukis Beweis so: "Ich kann dazu nichts sagen, weil ich es nicht verstehe. Ich verstehe auch nicht die Idee dahinter. Er hat 1000 Seiten aufgeschrieben, mit denen man ein halbes Jahr seines Lebens verbringen soll. Und ich habe nicht vor, ein halbes Jahr meines Lebens damit zu verbringen, weil ich noch was anderes zu tun habe und auch andere Verpflichtungen."
Mochizukis Argumentation konnte bis heute nicht nachvollzogen werden. Ob sein Beweis richtig ist oder nicht, bleibt offen. Die Mathematik bietet zwar die einmalige Gelegenheit absoluter Sicherheit. Aber die muss man sich manchmal hart erkämpfen.
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