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Energie: Zehn Jahre reichen nicht zum Umstieg

"Zehn Jahre reichen aus", sagte der Risikoforscher und Soziologe Ortwin Renn von der Universität Stuttgart im Gespräch mit spektrum.de über den Zeitplan der deutschen Bundesregierung für die Energiewende. Konrad Kleinknecht von der Universität Mainz widerspricht.
Kernkraftwerk (Symbolbild)

Ortwin Renn hat im Interview mit spektrum.de ("Zehn Jahre reichen für den Ausstieg aus") versucht, die Empfehlung der Ethikkommission zum überstürzten Ausstieg aus der Nutzung der Kernenergie innerhalb von zehn Jahren zu verteidigen. Die von der Bundeskanzlerin und Klaus Töpfer handverlesene Kommission sollte eine Begründung für den schon gefassten Beschluss zum Ausstieg liefern. Sie sollte begründen, was rational nicht leicht zu verstehen war, hatten doch die Fraktionen der Regierungskoalition sechs Monate zuvor eine Verlängerung der Laufzeiten der als sicher eingestuften Kernkraftwerke beschlossen.

Um eine lange Debatte im Bundestag und seinen Ausschüssen über eine so wichtige Frage zu vermeiden, sollte ein außerparlamentarisches Gremium den nötigen Druck aufbauen. Dazu war es notwendig, für die Kommission nur solche Mitglieder auszuwählen, mit deren Kooperation man rechnen konnte. Deshalb waren (nach Renns Worten) "genau die Forscher, um die es am ehesten gegangen wäre – die Reaktorsicherheitsfachleute oder Spezialisten für Energietechnik und Energiesysteme –, nicht vertreten". Neben Theologen, Soziologen und Gewerkschaftern waren die einzigen Mitglieder mit naturwissenschaftlichem Hintergrund Wissenschaftsmanager im öffentlichen Dienst.

Konrad Kleinknecht | Konrad Kleinknecht ist emeritierter Professor am Institut für Physik der Universität Mainz. Er beschäftigt sich dort mit der Physik der Elementarteilchen, insbesondere mit Untersuchungen der schwachen Kraft zwischen Elementarteilchen und der Verletzung der Symmetrie zwischen Materie und Antimaterie, Physik der Neutrinos und Physik der Strahlungsdetektoren. 2007 verfasste er ein Buch über Energiekonzepte in Zeiten des Klimawandels.

Der Spiritus Rector der Kommission, Klaus Töpfer, verkündete dann auch öffentlich das Ergebnis der Kommissionsarbeit, bevor diese begonnen hatte. Eine Abweichung von dieser Meinung war nicht vorgesehen. Dabei hat sich in Deutschland durch den Unfall in Japan sachlich nichts verändert: Die Sicherheit unserer Kernkraftwerke ist gleich geblieben, Tsunamis kommen nicht vor, Erdbeben sind 1000-mal schwächer als in Japan, und gegen Flugzeugentführer helfen Passagierkontrollen und Vernebelungsstrategien. Durch die politisch schon getroffene Entscheidung der Kanzlerin zum Ausstieg hatte die Kommission nur noch die Aufgabe, die Begründung zu liefern und den Zeitrahmen festzulegen.

Dabei ist erstaunlich, dass die Kommission einerseits fordert, der Zeitrahmen für den Ausstieg müsse so bemessen sein, dass eine alternative Stromerzeugung aufgebaut werden kann, aber andererseits sich für kompetent hält, dafür einen engen Zeitrahmen von zehn Jahren zu empfehlen. An keiner Stelle des Berichts wird der Versuch unternommen, für diese kühne Forderung eine konkrete quantitative Begründung zu geben. Für die Umstellung unserer gesamten Stromversorgung und damit unserer Wirtschaft ist das ein unrealistisch kurzer Zeitraum, der weniger auf rationalen Überlegungen als auf dem Prinzip Hoffnung beruht.

Diesen Zeitrahmen haben die Regierung und der Bundestag übernommen, ohne die Folgen konkret zu übersehen. Unter Zeitdruck konnten der Bundestag und seine Ausschüsse keine breite öffentliche Diskussion führen. Es fehlt eine belastbare empirische Begründung, die die Fragen der Versorgungssicherheit, der Finanzierbarkeit, der Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung und die soziale Gerechtigkeit hätte behandeln müssen. Im Gegensatz zu dem Ausstiegsplan der Regierung Schröder, der mit der Industrie abgestimmt war und von dieser als realisierbar eingeschätzt wurde, ist dieses Gesetz ohne Anhörung der Industrie und gegen sie beschlossen worden. Dadurch müssen die vier überregionalen Energieversorger große Vermögensverluste hinnehmen, die ihre Fähigkeit, in den Aufbau der erneuerbaren Energien und der benötigten fossilen Kraftwerke zu investieren, schwächt.

Mit der Reaktion auf den Unfall in Fukushima steht die Bundesregierung in Europa und der Welt ziemlich isoliert da. Dabei gilt nach Herrn Renns Worten: "Es ist nicht unethisch, Kernenergie zu betreiben. Und wenn andere Staaten zu dem Schluss kommen, weiter auf Kernenergie zu setzen, ist das durchaus moralisch vertretbar."

Warum kommen dann die Ethikkommission und Herr Renn zum Ergebnis, für Deutschland sei (aus ethischen Gründen?) der Ausstieg geboten, während die meisten unserer Nachbarn und alle großen Mächte der Welt zur Reduzierung ihrer Treibhausgasemissionen Kernenergie nutzen oder ausbauen? Hier wird aus der Ethikkommission plötzlich eine Sachverständigenkommission, die über physikalische und technische Fragen ein Urteil abgibt. Sie sieht sich offenbar als kompetent an und ist "der festen Überzeugung, dass der Ausstieg aus der Nutzung der Kernenergie innerhalb eines Jahrzehnts … abgeschlossen werden kann" (Seite 4 des Berichts).

Hier macht eine Kommission ohne Energieexperten eine weit reichende wissenschaftliche Aussage, die profundes Sachwissen voraussetzt. Herr Renn – und wohl auch die Kommission – glauben offenbar, dass der zu jeder Sekunde verfügbare und benötigte Grundlaststrom aus Kernkraftwerken durch die zeitlich variablen und volatilen Beiträge von Wind und Sonne "ersetzt werden kann" (Renn). Sowohl die Windkraft wie die Fotovoltaik liefern Strom nur für günstige Zeitperioden. Die volle Leistung erreichen Windkraftwerke an Land durchschnittlich während vier Stunden und im Meer während zehn Stunden am Tag, die Fotovoltaik während zweieinhalb Stunden am Tag. Die Grundlast an Strom für Industrie und Haushalte wird zurzeit je zur Hälfte von Braunkohle und Kernkraft getragen. Diesen Bedarf können die erneuerbaren Energiequellen für die nächsten 20 Jahre nicht zuverlässig liefern.

Auch wie die notwendigen 3000 Kilometer Hochspannungsleitungen von den Windkraftanlagen an der Küste zu den südlichen Bundesländern und die fünffache Kapazität an Pumpspeicherkraftwerken in den Mittelgebirgen in diesem kurzen Zeitraum gebaut werden sollen, sagt die Kommission nicht. Das gefährliche Risiko eines großflächigen Stromausfalls wird nicht ernst genommen. Im Jahr 2011 konnte die fehlende Strommenge noch aus den französischen und tschechischen Kernkraftwerken importiert werden: Dort arbeiteten im Jahresmittel zwei Kraftwerke beziehungsweise eines nur für den Export nach Deutschland. Wir importieren den Strom und versuchen das Risiko an die Nachbarn weiterzureichen. Bei vorherrschenden Westwinden und 50 französischen Kernkraftwerken in Betrieb ist das allerdings eine Illusion.

Außerdem behauptet die Kommission, dass "die wirtschaftlichen Risiken der Alternativenergien nach heutiger Sicht überschaubar und begrenzbar" seien. Diese Einschätzung wird sich als falsch herausstellen, denn durch die staatlich festgelegten Einspeisungsgebühren für Fotovoltaik und Windkraft und andere Steuern werden die Stromabnehmer mit weit mehr als 100 Milliarden Euro belastet. Die deutschen Strompreise für Industrie und Privatkunden liegen schon heute 80 Prozent über den französischen Preisen, und sie steigen weiter. Dies bringt die energieintensiven Industriezweige, die Aluminium, Kupfer, Karbonfasern, Silizium oder Zement herstellen, in eine auf Dauer unerträgliche Lage. Bisher hat die Regierung diese Unternehmen durch eine weitere Subvention von den Preissteigerungen verschont, aber diese Sonderregelung wird von der Europäischen Kommission nicht geduldet. Die Unternehmen haben einen Stromkostenanteil von etwa 60 Prozent, und ihr Verbleib in Deutschland ist gefährdet. Mit der Grundstoffindustrie wird dann auch die Halbzeugherstellung abwandern.

Eine weitere Fehleinschätzung der Kommission liegt in den widersprüchlichen Aussagen zur Emission des Treibhausgases CO2. Auf Seite 22 heißt es: "Fossilbefeuerte Kraftwerke mit einer Leistung von 11 Gigawatt … werden ans Netz gehen", was einer Mehremission von etwa 90 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr entspricht. Auf Seite 21 heißt es aber, die Klimaziele für 2020, das heißt die Reduktion der Emissionen um 30 Prozent oder 300 Millionen Tonnen pro Jahr gegenüber 1990, seien "zu erreichen".

Als Fazit kann man festhalten: Der überstürzte Ausstieg aus der Nutzung der Kernenergie hat schwer wiegende Folgen. Deutschland wird massiv Strom aus den Kernreaktoren der Nachbarländer Frankreich, Tschechien und der Schweiz importieren und viele Kohle- und Gaskraftwerke bauen müssen, um Stromausfälle zu vermeiden. Die Emissionen des Treibhausgases Kohlendioxid werden ansteigen, und die Klimaziele der Regierung können nicht erreicht werden. Der Anstieg der Strompreise durch die Einspeisung der erneuerbaren Energien und den Zwang zum Kauf von CO2-Zertifikaten wird Deutschland als Standort für die energieintensiven Industriezweige benachteiligen und viele Arbeitsplätze gefährden. Deutschland geht ein großes Risiko ein: Die reale Gefahr besteht darin, dass alle drei Ziele einer rationalen Energieversorgung verfehlt werden – Versorgungssicherheit, Bezahlbarkeit und Klimaverträglichkeit.

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