Lobes Digitalfabrik: Zeig mir deine Daten!
Wer vor seiner Abreise in die USA das ESTA-Einreiseformular am heimischen Computer ausfüllt, erhält eine klare Ansage: "Sie sind im Begriff, auf ein Computersystem des Department of Homeland Security zuzugreifen. Dieses Computersystem und die darin enthaltenen Daten sind Eigentum der US-Regierung und werden für die behördliche Information und Nutzung zur Verfügung gestellt. Es gibt keine Aussicht auf Privatsphäre, wenn Sie dieses Computersystem nutzen. Die Nutzung eines Passworts oder anderer Sicherheitsmaßnahmen begründet keine Erwartung von Privatsphäre." Die Regierung will mit diesem recht breitbeinig vorgetragenen Verständnis klarstellen, wer Herr im Hause ist. Doch dieser Warnhinweis, als der er verstanden werden muss, ist im Grunde eine Bankrotterklärung des Staates.
Viele Bürger begegnen dem Überwachungswahn des Staates mit dem Biedersinn-Argument: "Sollen sie doch spähen, ich habe nichts zu verbergen." Es sei ohnehin längst nichts mehr privat. Beim Onlineshopping wird man getrackt, in den eigenen vier Wänden späht die CIA den smarten Fernseher aus, am Flughafen wird der Koffer geöffnet, und im öffentlichen Raum beobachten uns Überwachungskameras. Da macht es nicht mehr viel aus, wenn man sich vor den US-Behörden bis auf die Unterhose auszieht und sogar freiwillige Angaben über Social-Media-Accounts macht, die ein ominöser Algorithmus auf Konformität überprüft. Die Geheimdienste wissen sowieso schon alles, raunt man sich fatalistisch zu. Und überhaupt: Hauptsache, das Flugzeug ist vor Terroristen sicher!
Die Anhänger der Post-Privacy-Bewegung behaupten, Privatsphäre sei kein universeller und zeitloser Wert, sondern eine soziale Konstruktion der westlichen Kultur aus dem 18. Jahrhundert, die als historisches Konzept vielleicht schon überholt ist. Vint Cerf, Googles "Chief Internet Evangelist", sozusagen oberster Internetmissionar des Unternehmens, erklärte einmal, bei der Privatheit könnte es sich um eine "Anomalie" handeln. Er selbst habe in einer Kleinstadt ohne Telefon gelebt, wo der Postbote sah, wer von wem Briefe bekam. Nichts anderes würde heute Amazon tun. "In einer Stadt von 3000 Einwohnern gibt es keine Privatsphäre. Jeder weiß, was der andere tut", so Cerf. In der Tat hat sich das Internet mit seiner tribalen Struktur einem globalen Dorf angenähert. Doch darf man von dieser Feststellung nicht auf eine normative Annahme schließen.
Ist die Idee der Privatsphäre ein historischer Zufall, eine Anomalie?
Die Tatsache, dass Bürger Überwachungsmaßnahmen und damit Abstriche an ihrer Privatsphäre akzeptieren, liegt nicht an einer stillschweigenden inneren Übereinkunft, sondern daran, dass diese kaum sichtbar ist. Der amerikanische Soziologe Gary T. Marx argumentiert, dass Überwachung heute nicht mehr in einem Panoptikum stattfindet, bei dem der zentralisierte Aufseher Einblick in alle Zellen hat und sich der Gefangene unter dem Druck permanenter Überwachung normkonform verhält, sondern viel subtiler: in der Konsumgesellschaft. Diese "softe Überwachung" (soft surveillance) findet täglich statt, ohne dass wir es merken. Kreditkarten sind dafür ein klassisches Beispiel. Man hilft an der Überwachung mit, macht das aber unbewusst, weil man etwas mehr Komfort oder Bonuspunkte dafür bekommt. Auch Smartphones oder Fitnesstrackern, die die Tech-Industrie als "Gadgets" vermarktet, sieht man nicht an, dass sie unter anderem auch Messgeräte mit Ortungsfunktion sind.
Dass den Bürgern ihre informationelle Selbstbestimmung doch nicht so egal ist, wie immer behauptet wird, demonstriert eine Guerilla-Aktion der britischen Bürgerrechtsorganisation Liberty Human Rights: Eine Frau – herrlich gespielt in ihrer naiven Dreistigkeit – läuft in einer Fußgängerzone in London mit einem Abhörgerät bewaffnet auf Passanten zu und fragt sie nonchalant, ob sie ihre Anrufe oder persönliche Historie einsehen könne. "Ist das Ihre Tochter auf dem Foto?" Die Menschen reagieren verstört bis empört auf den Spähversuch. Der Security-Mann einer Behörde erwidert: "Warum sollen wir Ihnen unsere Kommunikationsdaten zeigen?" Die Bürger sind offenbar nur dann beunruhigt, wenn sie den Übergriff persönlich merken, obwohl der Staat (hier: Großbritannien) und Unternehmen ständig nichts anderes machen. Das Experiment zeigt, dass sich Bürger sehr wohl um ihre Privatsphäre sorgen und einen flagranten Eingriff in dieselbe als etwas Anstößiges auffassen.
Der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich schrieb schon 1965 in seinem Werk "Die Unwirtlichkeit unserer Städte": "Öffentlichkeit als bürgerliche, demokratische Institution verlangt nach ihrem Gegenteil, der Intimität der Privatheit. Wenn diese Polarität, wie im Nationalsozialismus, tendenziell verloren geht, ist das stets ein Zeichen, dass die Individuen vor der Übermacht der Verhältnisse kapituliert haben." Nur aus dem Schutz der Privatsphäre heraus kann man als Homo politicus im öffentlichen Raum agieren. Wer also die Privatsphäre demontiert oder für abgeschafft erklärt, zerstört auch die Integrität der bürgerlichen Öffentlichkeit, ohne die eine Demokratie nicht funktioniert. Leider hat die US-Administration ihren Mitscherlich wohl nicht gelesen.
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