Hemmer und Meßner erzählen: Kleine Geschichte von einem Toten und 400 000 Wörtern
Im Februar 1872 machte sich der Heizer George Merrett unweit von London gerade auf den Weg zu seiner Nachtschicht. Plötzlich lief ein Mann schreiend hinter ihm her und zog eine Waffe. Noch bevor Merrett weglaufen konnte, feuerte der Angreifer – Merrett ging tödlich verwundet zu Boden. Der Täter versuchte überhaupt nicht zu fliehen und blieb mit der Waffe in der Hand stehen, bis die Polizei eintraf und ihn verhaftete.
Ein Mordmotiv? Gab es nicht. Und gekannt haben sich die beiden auch nicht. Was steckte also dahinter? Es stellte sich heraus, dass der Täter ein ehemaliger Arzt der US-Armee war: William Chester Minor. In den Wochen vor der Tat war er mehrfach bei der Polizei vorstellig geworden, weil er nach Hilfe gesucht hatte. Er war davon überzeugt, dass Männer nachts in sein Zimmer eindringen würden, um ihn zu vergiften.
Er litt offenbar an der krankhaften Vorstellung, von anderen bedroht und verfolgt zu werden. Das führte auch zum Mord an George Merrett. Denn Minor war in jener Nacht wie von Sinnen auf die Straße gerannt, um einem vermeintlichen Einbrecher nachzujagen, den er dann in Merrett zu erkennen glaubte.
Auf Grund seiner geistigen Verfassung ordneten die Richter eine Art Sicherungsverwahrung für Merrett an, die so lange galt, bis »Ihre Majestät anders belieben«. Minor sollte sein restliches Leben in staatlichen Anstalten verbringen, die längste Zeit davon in Crowthorne, einem kleinen Ort ungefähr eine Stunde von London entfernt.
Was hat ein Mord mit dem Oxford English Dictionary zu tun?
Das Oxford English Dictionary, kurz OED genannt, ist kein gewöhnliches Wörterbuch. Es ist ein gigantisches Projekt: Denn es hat nicht nur den Anspruch, alle Wörter der englischen Sprache abzubilden, sondern auch deren Geschichte – wann ein Wort das erste Mal verwendet wurde und welchen Bedeutungswandel es durchgemacht hat. Dafür sollten jeweils Zitate und Belege mit aufgeführt werden. Es dauerte daher auch 70 Jahre, bis die erste Ausgabe vollständig gedruckt war.
Alle bisherigen Artikel der Kolumne »Hemmer und Meßner erzählen« gibt es hier.
Als Startschuss für das Projekt gilt das Jahr 1857. Damals trat der Philologe Richard Chenevix Trench vor die Philological Society in London und skizzierte der versammelten Zuhörerschaft, wie ein Wörterbuch aussehen müsste, das die Geschichte aller Wörter der englischen Sprache darstellt. Eines war für Trench völlig klar: Einer allein wäre mit dieser Aufgabe heillos überfordert. Sein Vorschlag lautete daher, Freiwillige zu rekrutieren, hunderte Amateure, die sich auf den Weg in die Bibliotheken machen sollten, um nach Belegstellen zu suchen.
Ein Crowdsourcing-Projekt im 19. Jahrhundert
1858 wurde dann ein Aufruf gestartet: Die Freiwilligen sollten bestimmte Bücher lesen, dabei Wortlisten anlegen und auf einem Stück Papier festgelegte Informationen sammeln. Erster Herausgeber war Herbert Coleridge, der aber zwei Jahre später verstarb, weshalb das Projekt bald wieder einschlief. Niemand rechnete damit, dass auch nur ein einziger Band erscheinen würde.
20 Jahre gingen ins Land, bis die Philological Society einen weiteren Anlauf unternahm und nach einem neuen Herausgeber suchte. Man fand ihn in James Murray. Mit der Oxford University Press wurde außerdem ein neuer Verlag ins Boot geholt. Murray machte sich bald daran, die Suche nach Freiwilligen auszuweiten. Er gab Flyer und Anzeigen heraus, und in Bibliotheken wurde der Aufruf als Lesezeichen verteilt und in die Bücher gelegt.
Einer dieser Aufrufe erreichte Anfang der 1880er Jahre William Minor, der inzwischen seit acht Jahren in Crowthorne lebte. Dort war er recht privilegiert untergebracht, denn er hatte zwei benachbarte Zellen, die untertags nicht verschlossen wurden. Die zweite Zelle baute er im Laufe der Zeit zu einer Bibliothek aus. Gesundheitlich ging es ihm in diesen Jahren aber immer schlechter. Jede Nacht lag er wach, mit der großen Angst, vergiftet zu werden.
Die Mithilfe beim OED wurde jetzt zu einer Art Lebensaufgabe für ihn und bot gleichzeitig die Möglichkeit, mehr Kontakt mit der Außenwelt aufzunehmen. Er vergrub sich in seltenen Büchern aus dem 16. und 17. Jahrhundert, weshalb in vielen Fällen der Beleg für die erstmalige Verwendung eines Wortes beim OED von Minor stammt.
Umgekehrt war die Arbeit, die Minor leistete, für Murray und sein Redaktionsteam von entscheidender Bedeutung. Der bibliophile Insasse schickte nicht nur viele Belegstellen ein, sondern führte auch eigene Wortlisten und Verzeichnisse. Im Jahr 1897 notierte Herausgeber Murray, dass Minor allein seit 1895 12 000 Zitate eingeschickt habe. Als 1888 der erste vollständige Band »A bis B« erschien, wurde Minor daher auch in der Danksagung erwähnt.
Minors Engagement hielt über 20 Jahre an, mit der Zeit aber begannen seine Zuschriften an Murray seltener zu werden. Minors Zustand in Crowthorne verschlechterte sich zusehends, und 1910 gelang es seiner Familie, ihn zurück in die USA zu holen. Sein Bruder bürgte für die sichere Überfahrt und die Entlassungsverfügung hat niemand Geringeres als Winston Churchill unterschrieben. 1920 starb Minor in einem Pflegeheim.
»The OED says …«
Das OED war zu dem Zeitpunkt aber immer noch nicht abgeschlossen. Erst 1928 erschien der letzte von zwölf Bänden, in denen über 400 000 Wörter verzeichnet waren und fast zwei Millionen Belegstellen. Einige tausend davon stammten von Minor. Am Ende waren es sechs Millionen Zettel, die von den Freiwilligen eingeschickt wurden. Das OED war damit das größte Wörterbuch der Welt. Als Oxford English Dictionary wird es offiziell erst seit 1933 bezeichnet.
Bis heute ist es das bedeutendste Wörterbuch der englischen Sprache. Womöglich hat es sogar einen gewissen Anteil daran, dass Englisch zur Weltsprache geworden ist. Es wird häufig für seinen imperialen und elitären Tonfall kritisiert. Doch der verwundert im Grunde nicht, wenn man auf die Entstehungszeit des Werks blickt: Das ganze viktorianische Zeitalter und Großbritanniens Aufstieg zur Weltmacht spiegeln sich von A bis Z darin wider.
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben