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Warkus‘ Welt: Zwischen Freud und Leid

Das Leben ist voll von schönen Dingen. Doch können sie die schlimmen Erfahrungen aufwiegen? Schon Arthur Schopenhauer war seinerzeit der Ansicht, das Leben sei ein »Minusgeschäft«. Eine Kolumne.
Steine auf der Waage

Kann Leid aufgewogen werden? Das scheint eine einfache Frage zu sein. Stellen wir uns etwa einen Radrennfahrer vor, dessen erhebliche körperliche Qualen völlig durch das Glück überwogen werden, das sich an der Ziellinie einstellt.

Aber lässt sich jedes Leid so aufwiegen, insbesondere, wenn es existenziell und ungewollt ist? Hierzu gibt es vielerlei Anekdoten von einzelnen Menschen, die sich »durch nichts unterkriegen lassen«; man kennt allerdings auch genügend Beispiele von Personen, die über eine fürchterliche Leidenserfahrung nie hinweggekommen sind.

Vielen bereitet es heute Unbehagen, dieses Problem zu betrachten. Das lässt sich etwa an der Tendenz ablesen, Menschen, die unter einer schweren Krankheit leiden, mitunter ein gewisses Mitverschulden in die Schuhe zu schieben. So glaubt man gerne, bestimmte unheilbare Leiden träfen vor allem die, die kein hinreichend »gesundes Leben« mit Achtsamkeit, frischem Gemüse und Antioxidanzien führen. Krebskranke müssen sich bis heute oft den traditionsreichen Vorwurf anhören, ihre Krankheit sei ihrem falschen, repressiven Umgang mit psychischen Belastungen geschuldet.

Gibt es vernünftige Rassisten? Hat nicht nur der Ärger unseres Vorgesetzten eine Ursache, sondern auch alles andere auf der Welt? Und was ist eigentlich Veränderung? Der Philosoph Matthias Warkus stellt in seiner Kolumne »Warkus’ Welt« philosophische Überlegungen zu alltäglichen Fragen an.

Oder man möchte dem Leiden einen Sinn zuschreiben, indem man ihm eine positive Qualität anhängt. Das geht mit Hilfe der Religion, aber auch sehr gut ohne: Die amerikanische Autorin Barbara Ehrenreich hat ein ganzes Buch über die Ideologie des »positiven Denkens« geschrieben, nachdem sie anlässlich ihrer Brustkrebserkrankung erkennen musste, dass es eine Tendenz gibt, die Krankheit als »Geschenk« zu sehen, als Möglichkeit, positive existenzielle Erfahrungen zu machen.

Selbst im Schlaraffenland würde das Leid dominieren

Wenn man diese Vorstellungen vom Tisch nimmt, bleibt zurück, dass es himmelschreiende Mengen von individuellem und kollektivem Leid gibt, das die Leidtragenden schuldlos trifft und keinen Sinn für sie hat. Die glücklichen Erfahrungen, die Menschen in der Lage sind zu machen, nehmen sich daneben kümmerlich aus. Was ist schon eine perfekte Hochzeitsreise, ein spektakuläres Opernfestival, das Gefühl, das eigene Neugeborene im Arm zu halten oder zum ersten Mal mit der »eigenen Mannschaft« Meister zu werden, gegen Krieg, Folter, Genozid, Hunger und Krankheit? Und auch in einem Leben, das keine Berührung mit schlimmem Unglück hat, werden doch die Genüsse irgendwann schal, häufen sich Langeweile, Frustration, der vergebliche Wunsch auszubrechen. Selbst im Schlaraffenland würde das Leid dominieren.

Der wahrscheinlich berühmteste philosophische Anhänger der Vorstellung, dass das Leben notwendigerweise ein »Minusgeschäft« ist, war Arthur Schopenhauer (1788–1860; sonst vor allem bekannt durch einen schrulligen Lebenswandel und glühende Frauenfeindlichkeit). Sein Pessimismus führte ihn zu der Forderung nach Askese und Distanzierung vom Lebenswillen zur eigenen Leidensminimierung; zudem zu einer Ethik des Mitleids und der Schmerzvermeidung. Zu einer ganz praktischen, wenn auch umstrittenen Schlussfolgerung aus vergleichbaren Gedanken über ein asymmetrisches Verhältnis von Leid und angenehmer Erfahrung kommt der südafrikanische Philosoph David Benatar (* 1966): Er argumentiert, dass potenzielles Leid derart stärker ins Gewicht fällt als potenzielles Glück, dass es gar eine moralische Pflicht gibt, keine neuen leidensfähigen Wesen in die Welt zu setzen (so genannter »Antinatalismus«).

Selbst wenn man diesen Gedankengang vollständig akzeptiert, ist immer noch die Frage, ob und inwiefern man der breiten Masse die moralische Pflicht, sich nicht fortzupflanzen, nahebringen kann. Diskussionen um Antinatalismus zeigen daher möglicherweise vor allem, »wie weit sich die Philosophie vom Leben entfernen kann und wie ohnmächtig das philosophische Argument angesichts des Faktums des Lebens ist«, um es mit den Worten von Sebastian Hüsch von der Université Aix-Marseille zu sagen.

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