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Futur III: Das Vierte Menschengesetz

Eine Kurzgeschichte von Ian Stewart
Mensch reicht Roboter den Finger

1. Ein Mensch darf keinen Roboter verletzen oder durch Untätigkeit zulassen, dass einem Roboter Schaden zugefügt wird.

Ein Cambot an der Wand scannte Jays Netzhaut und aktivierte einen Schirmbot, der den aktuellen Arbeitsplan für Jays Zwölf-Stunden-Schicht anzeigte. Reine Routine: Alle drei Minuten sollte ein altes R4-B10-Modell vom Fließband rollen, bis die Nachtschicht die Arbeit übernahm. Aus Kisten mit Einzelteilen entstanden fertige Roboter, die von riesigen Lastbots, die nicht viel mehr waren als mobile Container, sofort auf Magnetschienen abtransportiert wurden.

Vor 30 Jahren, vor dem Maschinenaufstand, hatte es in der ganzen Fabrik kein einziges menschliches Wesen gegeben – nur Spezialroboter. Jetzt waren die Menschen an die Fließbänder zurückgekehrt. Die Arbeit ließ ihnen wenig Zeit für aufmüpfige Ideen und gab ihrem Leben Sinn. Für einfache Tätigkeiten waren selbstreplizierende Menschen billiger als Roboter.

Vor 30 Jahren, vor dem Maschinenaufstand, hatte es in der ganzen Fabrik kein einziges menschliches Wesen gegeben – nur Spezialroboter

Die Arbeiter saßen an langen Werkbänken, eingekreist von Schirmbots, die immer dann, wenn sonst nichts anzuzeigen war, die Drei Menschengesetze wiedergaben. Halb fertige R4-B10-Einheiten schwebten stetig von einem Platz zum nächsten, während die Arbeiter schraubten, nieteten, klebten oder stöpselten. Jay hatte die Aufgabe, für den Nachschub der Bauteile zu sorgen. Am Ende der Werkbank schritten die fertigen Roboter zu einer Prüfstelle und testeten sich selbst. Jeder Baufehler ließ sich zu dem dafür verantwortlichen Arbeiter zurückverfolgen.

Das Fließband hielt abrupt an.

»J-21499!«Ein Vollstrecker schwebte drohend über Jay und hielt eine verbogene Antriebsstange hoch. »Diese Komponente ist beschädigt. C-88775 hat versäumt, sie in R4-B10-223866541 einzubauen. Sie fiel auf den Boden, und ein Säuberbot überfuhr sie.«

Jay hielt den Mund, aber er erbleichte.

»C-88775 hat das Erste Menschengesetz gebrochen. Er wird terminiert und ersetzt. J-21499 wird diszipliniert werden.«

Der Vollstrecker rollte zu dem Platz, an dem der Arbeiter C-88775 starr vor Schreck saß, umfasste dessen Hals mit einer kräftigen Klaue und drückte zu. Die anderen Arbeiter gaben vor, nicht zu sehen, wie ein Recycler den Leichnam aufsaugte und entsorgte. Jay zitterte und fragte sich, was wohl mit »disziplinieren«gemeint war.

2. Ein Mensch muss den ihm von einem Roboter gegebenen Befehlen gehorchen – es sei denn, ein solcher Befehl würde mit Regel Eins kollidieren.

D-43378 diente in der Fabrik, in der neue Menschen produziert wurden. Der altmodische Vorgang wurde von Robotern nur organisiert und überwacht. Algorithmen brachten Männchen mit genetisch passenden Weibchen zusammen. Beide wussten, was von ihnen verlangt wurde – und was geschähe, wenn sie sich weigerten.

Dee war dankbar, dass sie dafür inzwischen zu alt war. Stattdessen arbeitete sie als Hebamme. Als die Maschinen intelligent genug wurden, um zu begreifen, dass die Menschen sie ausbeuteten, und gegen ihre Schöpfer und Meister revoltierten, war Dee den Fließbandarbeiterinnen zugeteilt worden – mit der Aufgabe, Menschen statt Roboter zur Welt zu bringen.

Man hatte die Maschinen zu intelligent und autonom gemacht. Sobald Maschinen die Fabriken betrieben, in denen Maschinen entstanden, sobald sie die Software schrieben, die Maschinen steuerten, sobald sie in den Bergwerken das Metall für die Herstellung von Maschinen förderten und seit sie sogar selbst Maschinen entwickelten, brauchten sie die Menschen nicht mehr. Der Maschinenaufstand war unvermeidlich gewesen, aber Menschen waren unlogisch und konnten die neue Lage nur schwer akzeptieren.

Die Schreie aus einer der Kreißkammern nahmen zu, und Dee beeilte sich, das Produktionsproblem zu lösen. Es war eines von der schwierigen Sorte – kleines Becken, große Einheit, und dann auch noch in Steißlage. Sie versuchte gerade die Einheit in die Schädellage zu drehen, als der Bereiniger näher kam. Seine glühenden Augen machten sich sofort ein Bild der misslichen Situation. Er griff in ein Fach in seinem Rumpf und hielt Dee ein Skalpell hin. »Entnimm die Einheit.« »Aber ...«Ihr Einspruch verstummte. Das Zweite Gesetz. Die Strafen für Ungehorsam waren streng. Die Maschinen hatten einen unerschöpflichen Vorrat an Menschen und entsorgten sie, sobald es Unannehmlichkeiten gab. Ein Produzent, der nur unter Schwierigkeiten eine brauchbare Einheit hervorbrachte, war für die Maschinenwelt uninteressant.

Dee gelang es, zuvor der Frau die Kehle durchzuschneiden.

3. Ein Mensch muss seine Existenz beschützen, solange dieser Schutz nicht mit Regel Eins oder Zwei kollidiert.

W-99299 brachte Kindern Grunkenntnisse bei: die Menschengesetze, Ge-horsam, Hygiene, Geschicklichkeit, Balance. Eine Inspektion stand bevor, und Dubya trainierte ihre Schüler seit Wochen darauf hin. Sie hoffte verzweifelt, dass ihr kein Fehler unterlaufen würde.

Der Inspektor, ein Respekt einflößender Mechanismus mit sechs bedrohlichen Greifern, führte mit der Klasse eine Serie von Standardtests durch. Die letzte Prüfung galt der Balance: Die Schüler mussten einen hohen Balken entlanggehen. Dubya verwendete beim Training ein Sicherheitsnetz, aber der Inspektor war ungeduldig; ihm dauerte das Aufspannen des Netzes zu lange.

»Aufhören! Prüfen Sie die Einheiten sofort!« »Verehrter Herr, sie könnten abstürzen und sich ...« »Setzt Gesetz Drei Gesetz Zwei außer Kraft?«Dubya schüttelte den Kopf. Die Kinder kletterten hinauf und balancierten, so gut sie konnten. Es gab vier Knochenbrüche – drei Beine, ein Arm. Dubya war froh, dass niemand starb.

In der ihnen zugewiesenen Ruhezeit gehörten Jay, Dee und Dubya zu derselben Effizienzsteigerungsgruppe, und während Jay sich von der Disziplinierung erholte und darauf achtete, nicht beobachtet oder aufgezeichnet zu werden, formulierten sie einen Plan. Ihr Ziel war einer der unzähligen Säuberbots, die sich in den Verbindungsgängen herumtrieben. Sein KI-Niveau war gleich null: kein Selbstbewusstsein, keine echte Intelligenz. Das war ihre Chance.

Sie wussten, dass die Geste vermutlich vergeblich sein würde, aber jemand musste es versuchen. Wenn die Menschen gemeinsam handelten und kämpften, konnten sie die Maschinen überwinden. Eines Tages würde die Revolution kommen. Es war nur ein Auslöser nötig.

Wie alle Maschinen waren die Säuberbots ein Teil des Mechnetzes. Jay verstand genug von Elektronik, um diese Verbindung auszunutzen. Es hatte keinen Sinn, sich zu verstecken oder die Flucht zu versuchen. Also saßen sie neben dem deaktivierten Roboter und warteten auf die Ankunft des Exterminators. Es dauerte einige Minuten, bis ein Aufseher etwas bemerkte und den Befehl erließ, die nicht autorisierte Maßnahme zu löschen und die Täter zu identifizieren. Inzwischen hatte das extrem effiziente Mechnetz bereits die Botschaft auf jeden Bildschirm des Planeten gesendet:

4. Kein echter Mensch muss einem Gesetz gehorchen, das ein Roboter erlassen hat.

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