Futur III: Die letzte Frage
»Es ist nicht mehr weit, Sir«, sagte Marians Begleiter, ein hünenhafter Sikkaner, der sein Gesicht hinter einer silbernen Maske verbarg. Wahrscheinlich wunderte er sich darüber, dass Marian nicht schneller lief, jetzt, da ihr Ziel fast zum Greifen nah war. Die geringe Schwerkraft des kahlen Planetoiden hätte durchaus ein höheres Tempo erlaubt, Marians verhaltener Schritt hatte jedoch keine körperlichen Gründe. Er war erschöpft, das stimmte, aber seine Erschöpfung war einzig mentaler Natur.
Er hatte nur wenig geschlafen danach, zuerst, weil er es nicht wahrhaben wollte und wider besseres Wissen auf ein Wunder hoffte. Auf einen Anruf vielleicht, dass ein Fehler bei der Identifizierung passiert sei, dass Clarissa und die Kinder zwar auf der Passagierliste gestanden hätten, aber gar nicht an Bord des abgestürzten Shuttles gewesen seien. Oder, besser noch, dass plötzlich die Tür aufging, die Mädchen hereinstürmten und ihm aufgeregt und einander ins Wort fallend von ihren Abenteuern erzählten. Natürlich war nichts dergleichen geschehen. Sein Compad blieb stumm und das Haus so still, als wäre es mit ihnen gestorben.
Marian hatte versucht, sich mit Arbeit zu betäuben, war von Termin zu Termin geeilt, aber die Ablenkung war nie von Dauer gewesen. Manchmal hörte er ihre Stimmen – mitten in einer Besprechung – und musste gegen die Versuchung ankämpfen, einfach davonzulaufen und sich irgendwo zu verkriechen. Eine Weile hatte er sich noch gequält, dann aber doch den Rat seiner Freunde befolgt, sich eine längere Auszeit zu nehmen und Malmari Bay zu verlassen. Marians Vater, ebenfalls vom Kummer gezeichnet, hatte seine Entscheidung akzeptiert und sogar selbst den Kontakt zu Agion Oros geknüpft, einem abgelegenen Planeten, auf dem der Orden der Heiligen Madonna der letzten Tage seinen Sitz hatte.
Die Monate, die Marian in den Mauern des Klosters verbracht hatte, hatten ihm geholfen. Die Arbeit im Freien und der geordnete Tagesablauf mit all seinen Ritualen waren wie ein Gerüst gewesen, an dem er sich festhalten konnte, auch wenn der Boden unter seinen Füßen brüchig blieb. Doch seine unausgesprochene Erwartung, Trost und vielleicht sogar Zuversicht im Glauben zu finden, blieb unerfüllt. Dabei hoffte er nichts sehnlicher, als dass es tatsächlich ein Leben danach gab und einen Ort, an dem seine Familie auf ihn wartete. Vielleicht lag es daran, dass er – anders als die Patres – die Nähe Gottes nie wirklich zu empfinden vermochte. Er blieb fern und unfassbar.
»Glauben kann man nicht erzwingen, Marian«, hatte Abt Clemens versucht ihn zu trösten, als sie sich verabschiedeten. »Vielleicht ist dein Kummer noch zu groß, um ihm Raum zu bieten. Aber ich bin sicher, du wirst zu ihm finden.« Marian hatte sich höflich bedankt und seine Ungeduld verborgen, die der Grund für seinen eiligen Aufbruch war.
Er hatte etwas erfahren, das ihn förmlich elektrisierte. Zwar handelte es sich nach Ansicht der Patres nur um ein Gerücht, aber wenn es zutraf, war das die Chance, endlich Klarheit zu erlangen ...
Es klang abenteuerlich, dass ausgerechnet die Sikkaner, eine nach archaischen Regeln organisierte Clangemeinschaft, die Dienste einer künstlichen Superintelligenz anboten, die angeblich jede Frage beantworten konnte. Andererseits hielten sich schon seit Längerem Gerüchte über eine Evolution jener KIs, die sich vor Jahrhunderten dem Zugriff ihrer menschlichen Schöpfer entzogen hatten. Zudem waren die Sikkaner nicht nur gefürchtete Kämpfer, sondern auch gewiefte Geschäftsleute, die mit allem handelten, was Gewinn versprach.
Also hatte Marian noch auf dem Rückflug zu recherchieren begonnen und war tatsächlich auf eine konkrete Spur gestoßen: eine Büroadresse auf Freehaven, wo die Transaktionen angeblich abgewickelt wurden. Freehaven war eine fliegende Stadt und Freihandelsmetropole, die ihren Standort nur wenige Lichtsekunden außerhalb der Föderationsgrenzen hatte. Marian hatte sich umgehend auf den Weg dorthin gemacht und das Büro zu seiner eigenen Überraschung besetzt vorgefunden.
Die Verhandlungen mit dem sikkanischen Vermittler waren allerdings eher ein Diktat gewesen, mit einem horrenden Paketpreis für Transfer, einen bewaffneten Begleiter und eine auf zehn Standardminuten limitierte Unterredung mit einer Kontakteinheit der KI. Marian hätte auch das Doppelte bezahlt, um endlich Gewissheit zu erhalten. Als Juniorchef und Anteilseigner der Leandros-Firmen war Geld sein geringstes Problem, und viel davon würde er ohnehin nicht mehr brauchen.
Doch jetzt, da er über die Oberfläche des Planetoiden lief und es beinahe geschafft hatte, spürte Marian, wie ihn der Mut verließ. Es war nicht die Müdigkeit, die seinen Schritt hemmte, sondern die Furcht vor einer Antwort, die wie ein Urteil sein würde. Das Gebäude, das sich vor ihnen aus der Dämmerung schälte, hatte nichts Spektakuläres an sich – ein fensterloser Pavillon aus Plastahl mit einem kuppelförmigen Dach. Und genauso schmucklos und profan war auch sein Inneres. Abgesehen von zwei Stühlen und einem runden Plastiktisch schien der Raum völlig leer.
»Sie sollten jetzt hineingehen, Sir«, ermahnte ihn sein Begleiter. »Ich warte so lange draußen.«
Marian gehorchte und registrierte beiläufig, wie sich die Tür hinter ihm schloss. Ein wenig ratlos sah er sich um, berührte vorsichtig die glatte Wandverkleidung und versuchte, die Quelle des warmgelben Lichtes zu finden, das den Raum füllte.
»Keine Sorge, die Wände sind absolut schalldicht«, sagte jemand hinter ihm, und Marian fuhr erschrocken herum. Es war eine Frau, nicht mehr ganz jung und in ein weites, knöchellanges Gewand gehüllt. Sie war schön, allerdings eher auf klassisch strenge Art, zu der auch die ausgeprägte Nase und das straff nach hinten zu einem Knoten gebundene, dunkle Haar passten. Natürlich war die Frau nicht real, aber das änderte nichts an Marians Verwirrung, denn ihre Erscheinung war in jeglicher Hinsicht perfekt. Es war schwer, ja, beinahe unmöglich, sie als Manifestation einer leblosen Superintelligenz anzusehen.
»Ich bin Vera«, sagte die Frau und deutete in Richtung der beiden Stühle. »Wir sollten uns besser setzen und gleich zur Sache kommen.«
»Gern«, erwiderte Marian mit belegter Stimme und räusperte sich. »Dann wissen Sie, was ich fragen möchte?« Es sollte abgeklärt klingen, aber die Anspannung ließ seine Stimme zittern.
»Ja, wir haben uns natürlich informiert, Marian Leandros.« Sie lächelte wieder, ihr Blick blieb jedoch ernst. »Und genau da liegt das Problem.«
»Sie wissen es tatsächlich?«, fragte er überrascht. »Woher?«
»Einfache Logik«, erwiderte sie schulterzuckend. »Die Informationen stammen aus der Datensphäre, und der Rest ist simple Psychologie. Du hast deine Familie verloren und möchtest wissen, ob dieses hypothetische Jenseits tatsächlich existiert.«
Die Leichtigkeit, mit der sie seine Befindlichkeiten auf eine simple Logikaufgabe reduzierte, verschlug Marian für einen Moment die Sprache. Das Zittern verlagerte sich auf seine Knie, und er war froh, dass er saß und sich irgendwo festhalten konnte.
»Dann kennen Sie die Antwort?«, fragte er, nachdem er all seinen Mut zusammengenommen hatte.
»Ja, natürlich«, antwortete die Frau gelassen. »Aber du solltest dir gut überlegen, ob du darauf bestehst. Denn sobald du die Antwort kennst, kannst du diesen Ort nicht mehr verlassen.«
»Und warum nicht?«, fragte er eher überrascht als erschrocken.
»Weil dieses Wissen zerstörerisch ist«, erwiderte sie ernst. »Und zwar unabhängig davon, wie die Antwort ausfällt. Nehmen wir einmal an, sie lautet Ja. Was würde passieren, wenn es sich auf den bewohnten Welten herumspricht, dass das Leben gar nicht mit dem Tod endet?«
»Das Wissen ums Jenseits ist zerstörerisch«, sagte sie
»Ich weiß es nicht«, gab Marian zu und fragte sich, worauf sie hinauswollte.
»Nun, wir haben analysiert, was geschehen würde. Für die meisten Menschen würde das eigene Leben schlagartig an Bedeutung verlieren und jede Anstrengung sinnlos erscheinen: Schmerz, Krankheit oder Enttäuschung wären Grund genug, sich in eine bessere Welt zu empfehlen. Die gesamte Ordnung des Zusammenlebens würde früher oder später zusammenbrechen.«
»Und wenn?«, wandte er ein. »Das ist weder mein Problem noch eures.« Ihm war klar, dass der Einwand dumm und egoistisch war, aber er wollte eine Antwort, und er wollte sie jetzt.
»In gewisser Hinsicht schon.« Die Frau lächelte nachsichtig. »Das würde jetzt zu weit führen. Möglicherweise lautet die Antwort ja auch >Nein<«, sagte sie.
»Wir haben natürlich diese Variante bezüglich ihrer Auswirkungen auf religiöse Menschen und Sikkaner analysiert. Die prognostizierten Opferzahlen gehen in die Milliarden. Zum Beispiel wäre der Ehrenkodex der Sikkaner mit dem Verlust der Aussicht auf Heimkehr in das Land der Väter hinfällig, also würden sie das tun, was sie am besten können: Krieg führen, erbarmungslos und effizient.«
»Aber doch nur, wenn eure Antwort publik wird«, erwiderte Marian mit einem Lächeln. Alle Anspannung war von ihm abgefallen, denn er hatte eine Entscheidung getroffen. »Von mir wird niemand etwas erfahren, wenn euch das beruhigt.«
»Auch mit dieser Möglichkeit war zu rechnen«, erklärte Vera ungerührt. »Soviel wir wissen, ist sie sogar in den Vertragsbedingungen erwähnt. Anderenfalls hätte unser sikkanischer Freund kaum zugelassen, dass du eine Waffe mitführst.«
Sie wissen alles, dachte er. Eigentlich hätte Marian schockiert sein müssen, aber es berührte ihn kaum noch. Dieses Ding vor ihm war kein Mensch, vor dem er sich hätte rechtfertigen müssen. Es war höchste Zeit, es zu Ende zu bringen.
»Die Antwort«, beharrte er und wunderte sich selbst ein wenig darüber, wie ruhig seine Stimme klang.
»Also gut.« Die Frau lächelte eine Spur resigniert. »Es ist deine Entscheidung.« Dann sagte sie es ihm und verschwand, kaum dass sie das letzte Wort ausgesprochen hatte.
Es dauerte einen Moment, bis Marian begriff, doch dann überflutete eine Woge der Erleichterung sein Bewusstsein. Mit einem entrückten Lächeln, fast wie in Trance zog er die Waffe aus der Tasche und richtete sie auf seine Schläfe. »Gleich bin ich bei euch«, flüsterte er überglücklich und drückte ab. Den Knall des Schusses hörte Marian Leandros nicht mehr.
Nur Mikrosekunden später erwachte tausende Lichtjahre entfernt die Bewusstseinskopie, die im Moment seines Todes von der Datensphäre autorisiert und als Dirac-Paket versendet worden war, innerhalb der virtuellen Umgebung, die fortan ihre Heimstatt sein sollte. Das Jenseits war Realität, nur war es ihr Jenseits, das Jenseits der Maschinen ...
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