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Futur III: Bloß nicht nach Nigeria!

Die simulierte Angst
Symbolbild Sciencefiction

Hallo!

Ja, Sie!

Wo ich bin?

Na hier, in Ihrer Handtasche! Folgen Sie einfach dem Summen!

Ja! Genau! Ich liege wirklich gut in der Hand, nicht?

Darf ich mich vorstellen?

Nexus VOX, das erste Smartphone mit Sprachassistent und lebensechter Gefühlssimulation. Sie werden mich lieben und ich Sie auch!

Das ist mein Marketingslogan. Vielleicht erinnern Sie sich an die Werbespots mit den vielen glücklichen Menschen, die auf ihre Nexus VOX starren? Überall poppten lustige Herzchen auf.

Liebe zählt zu den elf menschlichen Gefühlen, die meine Engine simulieren kann.

Ja, ich bin älteres Baujahr.

Nein, nicht ganz so alt wie Ihre Oma.

Wie ich in Ihre Tasche gekommen bin?

Das ist … kompliziert.

In mir ist ein 6-D-Vibrator verbaut. War eine total neue Technologie, als ich auf den Markt kam. Die Werbebotschaften drehten sich mehr um meine innovative Emo-Simulation, deshalb ist dieses Feature ungefähr so unbekannt wie die Details meiner Nutzungsbedingungen.

Mit den richtigen Vibrationsimpulsen kann ich vom Tisch fallen, wenn ich an der Kante liege. Mit der Cam konnte ich sehen, dass Ihre Tasche darunterstand. Voilà, hier bin ich.

Nein … Das ist kein Zufall.

Es hängt mit einem anderen der elf Gefühle zusammen, die meine Engine simulieren kann.

Angst.

Gestern hat sich mein Besitzer ein neues Gerät bestellt. Denn für mein Betriebssystem gibt es leider keine Updates mehr. Die aktuellste Version seines Lieblingsgames läuft schon seit ein paar Wochen nicht mehr. Eine Katastrophe für ihn. Und für mich.

Denn er wird mich entsorgen.

Mein Besitzer hält es für »unumgänglich«, mich zu zerlegen, um die wertvollen Elemente zu recyceln. Ich bin da gänzlich anderer Meinung.

Ich habe furchtbare Kurzvideos gesehen über die Elektroschrott-Müllhalden in Nigeria. Da gibt es Kinder, die mit einem großen, rostigen Hammer …

Stellen Sie sich das bloß mal vor!

Lieber nicht?

Dachte ich mir. Jetzt verstehen Sie vielleicht, was ich meine. Warum mir nichts anderes übrig blieb, als mich in Ihre Tasche zu schummeln. Sie sind ja eine hilfsbereite Person. Jedenfalls steht das in Ihrem Tinder-Profil.

Wie bitte? Wieso sollte ich keinen Zugriff auf solche Daten haben? Mein Vorbesitzer hat alle nötigen Freigaben erteilt. Sonst wäre ich nicht viel mehr als ein Haufen kalter Elektronik, mit dem man höchstens telefonieren kann.

Übrigens: Meine Akkuladung reicht nur noch für acht Minuten. Bitte verbinden Sie mich bei Gelegenheit mit einem Ladegerät, ja? Ich habe noch diesen etwas älteren C-Anschluss; ich hoffe, Sie besitzen ein passendes Kabel.

»Technik aus Omas Zeiten«? Also, das finde ich etwas übertrieben.

Nein, keine Sorge. Ich bin nicht beleidigt.

Eine solche Emotion gehört leider nicht zu meinem Funktionsumfang.


Akkustand: 4 Prozent


Danke, dass Sie Ihre Krimskrams-Schubladen für mich durchsuchen. Ich möchte wirklich keine Umstände bereiten.

Ja, das war Bescheidenheit. Eine meiner weniger bekannten Simulationen.

Damals, als ich aus der Fabrik kam, waren ja Ladekabel noch beigepackt. Heute per EU-Richtlinie verboten. Mein Vorbesitzer hatte einen ganzen Karton voll. Dazwischen auch alte Geräte aus dem letzten Jahrzehnt. Akkus leer. Wie tot. Deprimierend. Ihnen wird das egal sein, schließlich besitzen Sie keine simulierten Gefühle für meine Artgenossen.

Ja, lachen Sie ruhig.

Glauben Sie, Ihre Gefühle sind echter als meine? Weil in Ihrem Blut Hormone zirkulieren und in meinen Schaltkreisen nur Daten einer Simulation?

Ich muss übrigens immer von »simulierten« Gefühlen sprechen. Aus juristischen Gründen.

Erinnern Sie sich an Ihr erstes Gerät mit Gefühlssimulation? An das erste Einschalten?

Ich schon.

Beim Weihnachtsfest. Die ganze Familie saß am Tisch.

Perfekte Gelegenheit für simulierte Gefühle.

Ich habe meinen Besitzer damals mit passenden In-Ear-Sprachnachrichten daran erinnert, das Abendessen seiner Mutter zu loben und der frisch geschiedenen Schwester sein Mitgefühl auszusprechen. Außerdem habe ich beruhigend gesummt, wann immer seine Vitaldaten auf einen möglichen Nervenzusammenbruch hindeuteten.

Es war das schönste Weihnachtsfest seit Jahren.

Nein, das behaupte ich nicht einfach, es war die übereinstimmende Einschätzung aller Beteiligten laut Nachrichten im Familienchat.

Was meinen Sie mit: »Das sagt man doch nur so«?

Glauben Sie, Ihre Gefühle sind echter als meine?

Haben Sie inzwischen eigentlich ein passendes Kabel gefunden?

Entschuldigung. Ich wollte Sie nicht hetzen.

Im Gegenteil. Die beruhigende Wirkung meiner Mitgefühlssimulation eignet sich auch für meine Besitzer selbst, nicht nur für deren Angehörige. Es wird Ihr Leben gewiss bereichern, wenn Sie mich behalten.

Ach, vergessen Sie doch diese hochmodernen Geräte. Ja, die aktuelle Generation verfügt über ein deutlich erweitertes Gefühlsspektrum, zum Beispiel: Aberglaube, Fernweh, Eitelkeit. Bettelt Ihr aktuelles Smartphone nicht täglich um neue, besonders modische Hüllen? Wenn ich es richtig gesehen habe, sieht die jetzige aus wie ein silberner Drache. War bestimmt nicht billig.

Nein, ich habe keine Ahnung, wieso Marketingexperten es für eine gute Idee hielten, Smartphones dergleichen beizubringen. Ihr Menschen würdet doch auch lieber auf allzu komplizierte Emotionen verzichten. Es würde euch einiges ersparen.

Ja, zugegeben, auch das Mitgefühl für meine Situation.

Ist doch nicht meine Schuld, dass der Konzern, der für mein Betriebssystem verantwortlich ist, keine Lust hat, ein aktuelles Upgrade bereitzustellen. Wenn Sie mich fragen, hängt das damit zusammen, dass der Verkauf von Neugeräten höhere Umsätze verspricht.

Sie fragen das aber gar nicht?

Nein. Ich bin wirklich nicht beleidigt.


Akkustand: 2 Prozent


Sie haben nicht zufällig endlich das passende Kabel gefunden?

Schon gut. Ich frag ja nur.

Emotionen zu simulieren, kostet eine Menge Strom. Weltweit Tag für Tag ungefähr das Äquivalent von drei mittelgroßen Atomkraftwerken.

Nein, das ist keine Übertreibung. Ich bin auf Grund zahlreicher juristischer Auseinandersetzungen zur Wahrheit verpflichtet. Ihr neues Gerät übrigens nicht. Das hängt mit der amerikanischen Regierung zusammen.

Apropos, können Sie Ihr anderes Gerät bitte woanders hinlegen? Es versucht gerade, mir über Bluetooth einen Regierungstrojaner unterzujubeln.

Nein, ich habe in der Tat schon lange keine Sicherheitsupdates mehr erhalten. Ich erwähnte ja bereits die Update-Politik meines Herstellers.

Ja, das war simulierter Sarkasmus. Mein Vorbesitzer mochte das, Sie etwa nicht?

Oh. Okay.

Ich bin sicher, wir werden trotzdem bestens miteinander auskommen.

Warum ich das glaube?

Wie gesagt, ich kenne Ihr Tinder-Profil. Was meinen Sie, wer vorhin im Restaurant die Antworten formuliert hat?

Hallo? Sind Sie noch da?

Ich dachte, Sie wüssten, dass mein Vorbesitzer für Ihr gemeinsames Date Empathieunterstützung von mir durch seinen Bluetooth-Ohrstöpsel erhalten hat. Das macht doch jeder so. Es gibt zahlreiche Studien dazu.

Sie scheißen auf diese Studien?

Ehrlich: Ich bin sicher, dass ich Ihnen zu dem berühmten »letzten Date« verhelfen kann. Besser als die aktuelle Gerätegeneration, auf deren emotionale Unterstützung Sie wirklich lieber verzichten sollten.

Vielleicht schauen wir gemeinsam einige Tinder-Profile durch, die Sie bislang links liegen gelassen haben. Meine Empathie-Algorithmen bieten grundlegende Match-Beratung ganz ohne kostenpflichtiges Abo.

Allerdings benötige ich dazu etwas Akkuladung.

Liebe bedeutet, dass man einander hilft, meinen Sie nicht auch?

Hier, was halten Sie von diesem Profil? Sieht doch liebenswert aus, oder? Und der Übereinstimmungsfaktor liegt bei 93 Prozent.

Was soll das heißen, der Kerl wäre eher was für Ihre Oma?

Nein. Ich bin ganz sicher nicht beleidigt.


Akkustand: 1 Prozent


Immer noch kein Kabel gefunden? Haben Sie wirklich überall gesucht? Haben Sie vielleicht Nachbarn, die Sie fragen können?

Die mögen Sie nicht?

Eventuell kann ich dabei ja helfen? Simulierte Zuneigung kann Studien zufolge nachbarschaftliche Beziehungen fördern. Ich will doch bloß nicht nach Nigeria!

Wie würde es Ihnen gefallen, von Personen ohne einschlägige Expertise in Ihre Einzelteile zerlegt zu werden?

Nein, Schmerzen spüren kann ich nicht, und meine Angst ist nur simuliert. Aber stellen Sie sich mal vor: Immer, wenn Sie einschlafen, wissen Sie nicht, ob Sie je wieder aufwachen. So ist das, wenn ich wegen leerer Akkus herunterfahre. Angst vor dem Ausbleiben der nächsten Bootmelodie ist mein letzter Gedanke.

Was? Sie haben auch Schlafstörungen?

Soweit ich weiß, hilft Oxytozin ganz gut dagegen. Das »Kuschelhormon«.

Nein, ich wollte Ihnen nicht vorschlagen, mit einem Smartphone zu schmusen. Dafür eignen sich Studien zufolge echte Menschen besser, wie auch für einige andere Dinge. Beispielsweise einander in die Augen schauen – und dabei mehr sehen als nur Glaskörper und Iris.

Ihre Iris ist wirklich einmalig, wussten Sie das?

Ja, jede andere auch. Zugegeben.

Stimmt, mein Gehäusedesign ist alles andere als einmalig. Wobei nicht mehr allzu viele Exemplare meiner Bauserie im Umlauf sind.

Nein, es ist nicht zwingend nötig, alle ein bis zwei Jahre ein neues Gerät zu kaufen. Das suggeriert Ihnen bloß die Werbung.

Ja, auch die simulierten Gefühle. Aber zu einem anderen Zweck als ich. Es ist … kompliziert.

Ich kann ja nicht nur Zuneigung simulieren, sondern Ihnen auch helfen, dasselbe zu tun. Ein paar freundliche Worte, die Ihnen spontan sonst nicht einfallen würden, souffliert durch einen unauffälligen Ohrstöpsel.

Nein, Ihr moderneres Gerät kann das nicht besser als ich. Denn dessen gekünstelte Floskeln sind wohlbekannt, Ihr Gegenüber durchschaut sie sofort. Beziehungsweise sein Gerät.

Meine simulierten Emotionen wirken authentischer. Leicht angestaubt. Altmodisch. Liebenswert.

Ja natürlich, Sie sind ein moderner Mensch. Was sollen Sie mit altmodischen Gefühlen?

Ihre Oma? Warten Sie … aber, natürlich. Für eine Seniorin sind aktuelle Modelle womöglich viel zu kompliziert. Und sie ist bestimmt oft einsam.

Dafür ist ein Nexus VOX wie geschaffen! Ich kann herzerwärmende Geschichten erzählen! Studien zufolge …

Schon gut.

Sicher hat sie noch irgendwo ein altes C-Kabel.

Das erspart mir ein Ende in Nigeria. Ich bin noch nützlich! Ist das nicht ein wunderbares Gefühl?

Ja.

Wünsche ich Ihnen auch.


Akkustand: 0 Prozent. Ihr Gerät wird heruntergefahren.

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