Futur III: Die ultimative Ex-Erfahrung
Im Bus hörte ich das erste Mal davon, auf dem Nachhauseweg vom Büro. Ein paar Leute, die vor mir saßen und mich nicht beachteten, unterhielten sich angeregt darüber.
»Ex-Erfahrung nennen die das«, schnappte ich auf. »Total irre. Klar, ich weiß, es gibt Sex-Bots, Beziehungssimulations-Apps und den ganzen Scheiß … aber eine App, die eine Trennung nachspielt? Wer sollte so was wollen? Wozu? Warum?«
Sie lachten abfällig.
Ich dagegen fand die Idee bereits gut, bevor ich anfing, auf meinem Smartphone zu recherchieren.
Als der Bus meine Haltestelle erreichte, die ich vor lauter Faszination beinahe verpasste, hatte ich die App der Firma ExPerience heruntergeladen, das Kleingedruckte in der Nutzungsvereinbarung per Klick bestätigt, die Gebühr für eine Ex-Erfahrung bezahlt und damit begonnen, Profildaten einzugeben.
Wieso, werden Sie jetzt fragen, wollte ich unbedingt eine solche App haben?
Ich war nun einmal das, was meine Mutter als »unauffällig-wohlgelitten« bezeichnete, hatte weder Freunde noch Feinde. In der Firma begegnete man mir mit Gleichmut, wenn man mich überhaupt wahrnahm; ich war ein stilles Rädchen im Getriebe. Ich hatte keine spannenden Hobbys, mit denen ich mich hätte hervortun, kein aufregendes Liebesleben, in das ich anderen hätte Einblick gewähren können – etwa durch private Telefonate voller Gekicher auf der Arbeit, meinen nach Feierabend vor der Firma wartenden Schatz oder was auch immer. In der Kantine oder in der Büroküche erzählte ich niemanden von schrecklichen Dates, magischen Wochenenden, verkorksten Beziehungen, nervigen Schwiegereltern oder eben hässlichen Trennungen.
Die App von ExPerience könnte das ändern.
Nur ich wüsste, dass es sich um eine künstliche Intelligenz handelte – die anderen im Büro müssten davon ausgehen, einen Blick in mein Privatleben samt einer schweren, grässlichen Trennung zu erhaschen: abgelenkt und aufgewühlt durch Message-Terror, wütende Anrufe, Emotionen …
Das alles selbst und allein vorzutäuschen, wäre mir verrückt vorgekommen. Doch mittels einer App und einer digitalen Intelligenz als Spielpartner? Das war wirklich genauso wie ein Sex-Bot oder eine App, die einem eine glückliche virtuelle Beziehung vorgaukelte. Dabei schien mir eine Fake-Trennung weitaus überschaubarer und weniger anstrengend zu sein als eine Fake-Beziehung, in die man wesentlich mehr Arbeit stecken musste, wie ich annahm.
Am Anfang lief alles so wie erhofft: störendes Signalton-Stakkato eingehender Messages im Büro, etwas zu laute und hitzige Privatgespräche während der Arbeitszeit und verschämt weggewischte Tränen, die echt waren, weil mir manche Nachrichten und Anrufe – KI hin oder her – nahegingen. Einmal bekam ich in der Kantine keinen Bissen herunter, da mich die Vorwürfe der App, die sie anhand meines Profils auf mich abschoss, so schwer trafen.
Die anderen im Büro schienen sich dadurch für mich zu erwärmen, mich zum ersten Mal als menschliches Wesen wahrzunehmen. Und wenn da bei einigen statt Mitleid Häme vorherrschte – na und, was kümmerte es mich? Wenigstens war ich endlich mehr als ein Möbelstück.
Die Woche, in der die Trennungssimulation von ExPerience mein Leben bestimmte und bereicherte, im Büro und selbst zu Hause, war die aufregendste Zeit seit Langem. Nie hatte ich mich lebendiger gefühlt.
Auf der Arbeit wurde ich in jenen Tagen oft angesprochen; alle wollten wissen, wie denn der Stand der Dinge, was die neueste Entwicklung sei. Ich gab bereitwillig Auskunft, erhielt Aufmerksamkeit, Unterstützung und Tipps. Man lud mich sogar zu einer Party ein.
Dann hörte es einfach auf. Von einem Tag auf den anderen.
Ich hätte es kommen sehen müssen, hatte diesen unausweichlichen Teil der Sache jedoch verdrängt.
Es war der letzte Schritt der Erfahrung, das nüchterne Lebewohl, der getrennte Gang in die Kälte, das Ende.
Das Ghosten.
Die KI ignorierte mich und ließ sich zu keiner Reaktion mehr provozieren. Selbst das kostete ich noch ein, zwei Tage im Büro aus, zelebrierte diese neuerliche Wendung. Allerdings verlor der Rest der Belegschaft an diesem Drama ohne Höhepunkte schnell das Interesse. Ich versuchte, die App zu weiteren Attacken und Scheinduellen zu animieren, noch irgendeine hasserfüllte Ehrenrunde herauszukitzeln – aber nichts da, die Spitze der Erfahrung, der tiefste Punkt des falschen Trennungstals, war allem Anschein nach erreicht.
Auch ExPerience zeigte sich nicht bereit, mir entgegenzukommen; die Firma ghostete und ignorierte mich genauso, wie ihre KI das tat.
Was blieb mir daher anderes übrig, als zur nächsten Firmenniederlassung zu fahren, deren Adresse ich im Netz problemlos fand? Von wegen Stalking!
Ein Wachmann, der mir zu erklären versuchte, dass es hier lediglich Server und keine Mitarbeiter gab, kam mir irgendwann blöd. Vielleicht war ich auch bloß sauer. Jedenfalls schlug ich ihn nieder – mir war nicht klar gewesen, dass ich das in mir hatte. Ein schockierendes, wenngleich berauschendes Gefühl. Ich schnappte mir seinen Sicherheitsausweis, öffnete Tür um Tür und hastete durch die labyrinthischen Gänge. Aber da gab es wirklich nichts als summende Server in langen Reihen und gekühlten Räumen.
Vor lauter Wut und Enttäuschung legte ich Feuer. Fast wäre ich nicht mehr rechtzeitig aus dem Gebäude herausgekommen.
Es war bereits zu spät, als mir der bewusstlose Wachmann wieder einfiel; längst loderten die Flammen in den Himmel und verschlangen das ganze Haus. Ich floh vor dem krachenden Toben des Feuers und vor den näher kommenden Sirenen.
Am nächsten Tag wurde ich verhaftet – Sicherheitskameras.
Der Prozess war äußerst öffentlichkeitswirksam, da die Medien ihn nutzten, um das Sommerloch bis zur nächsten Eruption der Klimakatastrophe zu überbrücken. Politiker und Experten besprachen meinen Fall und diskutierten über die Gefahren durch die verführerische Verzerrung der Realität auf Grund der Interaktion mit künstlicher Intelligenz.
Mehrere Leute aus dem Büro wurden interviewt und sagten, dass sie mir das nie und nimmer zugetraut hätten. Obwohl – ein bisschen merkwürdig sei ich ja schon immer gewesen, wenn sie es recht bedachten. Meine Mutter entschuldigte sich, in Tränen aufgelöst, bei der Familie des Wachmanns. Ein Nachbar, den ich noch nie im Leben gesehen hatte, meinte, meine stille Art sei ihm immer verdächtig vorgekommen.
Mein Anwalt kostete viel Geld und konnte dennoch nicht verhindern, dass ich ins Gefängnis musste. Dort machte ich ganz reale Erfahrungen, auf die ich gern verzichtet hätte.
Als ich dachte, dass mich nichts mehr überraschen könnte, erhielt ich eines Tages unerwarteten Besuch. Der Mann, der vom Scheitel bis zur Sohle nach einem Anwalt aussah, begrüßte mich an einem der festgeschraubten Alutische im Besuchsraum. Ein dünner Aktenordner aus Pappe lag vor ihm.
»Ich habe keinen neuen Anwalt verlangt«, brummelte ich, sowie ich Platz genommen hatte. »Es würde nichts bringen, in Berufung zu gehen. Außerdem bin ich pleite. Wenn Sie also nicht auf hoffnungslose Fälle stehen und pro bono arbeiten …«
»Nein«, wiegelte er mit einem schmalen Lächeln ab. »Deshalb bin ich nicht hier. Mein Name ist Heinz.« Womit er offen ließ, ob das sein Vor- oder Nachname war. »Ich vertrete die Interessen von ExPerience.«
Ich stöhnte. »Haben Sie mir nicht genug eingebrockt?«
»Genug ist das Stichwort«, antwortete Heinz, zeigte mir wieder sein dünnes Lächeln und klappte effektvoll die Akte auf, in der mehrere Schriftstücke lagen. »Sie haben nicht genug bezahlt«, eröffnete er mir sachlich.
»Für meine Verbrechen?«, fragte ich erstaunt. »Haben Sie vergessen, wo Sie mich hier treffen? Ich würde schon sagen, dass ich bezahlt habe. Jeden Tag bezahle.«
»Darüber müssen andere entscheiden«, versetzte er. »Ich will damit sagen, dass Sie für die Nutzung der Dienste von ExPerience nicht genug entrichtet haben. Im rein monetären Sinn. Sie schulden der Firma noch eine größere Summe.«
»Was?« Ich erwiderte es so laut, dass einer der Wärter grimmig in meine Richtung blickte. »Wollen Sie mich verarschen? Ich hab die App bezahlt, damit ging der ganze Ärger los! Mein Leben ist im Eimer! Der Wachmann. Das Feuer. Der Prozess. Das Mediengewitter. Die Verurteilung. Der Knast.«
»Es freut mich, dass Sie das so sehen«, sagte Heinz glatt. »Denn genau darum geht es. Haben Sie die Nutzungsbedingungen gelesen oder etwa einfach nur bestätigt? Ich habe sie hier. Die markierten Stellen. Schauen Sie selbst.«
Bevor ich mehr als ein paar verschachtelte Sätze gelesen hatte, erklärte Heinz: »Das, was Sie gerade eben beschrieben haben … das, was Sie erlebt haben …, ist das Paket der ultimativen Ex-Erfahrung. Mehr geht nicht.« Er deutete auf ein anderes Blatt. »Wie Sie sehen, haben Sie das volle derzeit mögliche Programm ausgereizt und damit die Voraussetzungen der variablen Eskalation erfüllt, die bei Nutzung automatisch als gebucht betrachtet wird. Die Begleichung durch Sie steht allerdings noch aus.«
»Na, dann viel Glück dabei«, sagte ich, lehnte mich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich bin pleite. Der Prozess … der Anwalt hat meine letzten Ersparnisse gefressen.«
»Dessen sind wir uns bewusst. Deshalb haben wir einen Vorschlag für Sie, um Ihre Schulden bei ExPerience zu tilgen. Mit der Gefängnisleitung ist schon alles abgesprochen. Sehen Sie, wir arbeiten an einer neuen App, diesmal im Bereich Virtual Reality. Die Menschen verlangt es nicht mehr nur nach Freiheit, sondern nach extremen Erfahrungen, die anders sind als ihr Alltag. Etwa der, hinter Gittern zu sitzen. Wir würden gerne Ihre Erfahrungen hier drinnen aufzeichnen und auswerten und in die Entwicklung eines neuen VR-Produkts einfließen lassen. Dafür würden wir Sie bezahlen, und wenn Sie eines fernen Tages hier rauskommen, wären Sie nicht nur frei, sondern auch schuldenfrei, und … he, gehen Sie runter von mir!«
Es waren drei Wärter nötig, um mich von Heinz fortzuzerren – mit meinen Fingern um den Hals hatte er bereits das Bewusstsein verloren.
Keine Ahnung, was mich diese Erfahrung kosten wird.
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