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Futur III: Die Wiedergeburt

Alle Sünden seien dir vergeben. Eine Kurzgeschichte von Eden Fenn
Seele

Das Register meiner Verfehlungen ist in jede Zelle meines Körpers eingeschrieben.

»Bevor wir fortfahren können«, sagt Schwester Ruth, »muss ich sicherstellen, dass du dich mit Leib und Seele hingibst. Du wirst diese Gelegenheit nur ein einziges Mal erhalten.«

Ich nicke und hoffe, dass die Geste unterwürfig wirkt, dass sie keinen inneren Widerstand verrät. Ich hätte mich nicht an diesem Ort gemeldet, wenn ich mir meiner Sache nicht sicher wäre.

Zwei Fotografien liegen auf dem Stahltisch, der uns trennt. Schwester Ruth deutet auf das Bild zu ihrer Rechten.

»Anne Whitman hat niemals verstanden, welchen Schaden sie anrichtete«

»Das ist Anne Whitman. Sie hat niemals verstanden, welchen Schaden sie anrichtete, indem sie nach ihren eigenen Regeln lebte. Sie sah nicht ein, wozu der Glaube gut sein soll. Jahrelang kam sie damit gut zurecht. Doch da sie sich nur von ihrer persönlichen moralischen Richtschnur leiten ließ, ging sie mehr und mehr in die Irre. So wurde aus ihr eine Drogenhändlerin, der nun Gefängnis droht, ohne Chance auf dem Arbeitsmarkt, ohne Zukunft. Eine Frau, die am Ende ist.«

Ich blicke von meinen gefalteten Händen auf und betrachte das Bild. Ein grobkörniges Verbrecherfoto meines Gesichts starrt mich an.

Schwester Ruth fixiert mich mit ihrem kalten Blick, bis ich ihr in die Augen schaue. Dann deutet sie auf das andere Foto. »Das ist Anne White.«

Die Frau auf diesem Bild könnte meine entfernte Verwandte sein oder eine nach einer mündlichen Beschreibung meines Aussehens angefertigte Zeichnung. Sie trägt die gleiche Kopfbedeckung wie Schwester Ruth – nach Art eines Nonnenschleiers, aber babyblau.

Meine Mutter erzog mich katholisch. Als junge Frau hatte sie sich herumgetrieben und eine Menge Fehler begangen, unter anderem mich. Als es höchste Zeit wurde, dass sie ihr Leben in den Griff bekam, nahm sie sich die Geschichte des verlorenen Sohns zum Vorbild und kehrte zu alldem zurück, wovor sie geflohen war: Eltern, Glaube, Kirche. Wäre ich bis heute mit ihr in Kontakt geblieben, hätte sie mich wahrscheinlich erneut verstoßen, weil ich mich diesem »Sektenkult« hier angeschlossen habe. Aber die Neue Kirche bietet eine besonders praktische Form der Absolution an.

»Diese andere Anne ist eine Novizin der Neuen Kirche«, fährt Schwester Ruth fort. »Sie hat ihr selbstsüchtiges Verhalten abgelegt und ihr altes Leben hinter sich gelassen. Sie ist jeden Tag bestrebt, für ihre Sünden zu büßen. Und in Anerkennung dieser Buße will die Neue Kirche ihr einen neuen Anfang ermöglichen. Ihre Vergangenheit soll ausgelöscht sein.«

Mein »selbstsüchtiges Verhalten« begann mit einem spontanen Posting, das ich durch die sozialen Medien schickte. Ein der Kirche nahestehender Politiker hatte ein paar widerliche Bemerkungen über einen Frauentreffpunkt gemacht, also textete ich etwas Abfälliges über diesen Politiker. Ich nahm an, er würde mich blocken und damit wäre die ganze Sache erledigt.

Es war ein nachlässiger Akt des Aufbegehrens. So etwas taten die Leute halt, ohne lange darüber nachzudenken – aber die Regeln änderten sich schneller, als ich ahnte. Als ich am nächsten Tag zur Kaffeestube ging, um meine Schicht anzutreten, wurde mir gekündigt. Mein Ex-Chef zeigte mir auf dem Display seines Tablets ein Datenprofil, das meinen beleidigenden Kommentar zusammen mit meiner Sozialversicherungsnummer anzeigte sowie die digitalisierte Blutprobe, die im Rahmen der Personenüberprüfung bei meiner Anstellung genommen worden war.

Damit nicht genug: Das soziale Netzwerk hatte meine gesamte private Korrespondenz der Bundespolizei übergeben. Eine kommentierte Auswahl von Online-Chats mit Bekannten und mit meiner Freundin Kat stand nun zusammen mit meinem Datenprofil im Netz; das reichte von sehr offenherzigen Kommentaren bezüglich laufender Ereignisse bis zu intimen Fotos, die ich Kat gepostet hatte, als sie im Ausland studierte. Das alles ergab das Porträt einer durch und durch verkommenen Person. Von jenem Tag an konnte sich jeder denkbare Arbeitgeber von mir ein hinreichend abstoßendes Bild machen.

Ich fand danach noch ein paar Gelegenheitsjobs in Hinterzimmern, in den dreckigsten Küchen der Stadt, mit den widerlichsten Chefs. Nirgends konnte ich das lange aushalten. Bald gehörte auch der häufige Jobwechsel zum Makel meines Lebenslaufs. In den vergangenen 18 Monaten musste ich mich ohne feste Anstellung irgendwie durchschlagen, auf jede erdenkliche Weise. Und jetzt hat mich all das eingeholt.

»Also«, fragt Schwester Ruth, »welche dieser beiden Frauen möchtest du sein?«

Ich nicke dem Gesicht mit einer Zukunft zu, der Person ohne Vergangenheit.

»Ausgezeichnet.« Ruth lächelt und wendet sich an den Justizvollzugsbeamten. »Sie können sie in meine Obhut entlassen.«

Ich unterzeichne die Dokumente, während Ruth mich zu der Taufe fährt. Ich willige ein, niemals wieder zu irgendjemandem aus meinem alten Leben Kontakt aufzunehmen. Aber es gibt ohnehin niemanden, den ich kontaktieren könnte: Mit Kat habe ich gebrochen, bevor ich sie mit mir hätte hinunterziehen können. Doch dafür habe ich in den letzten paar Monaten neue Freunde gewonnen, und die werden Möglichkeiten finden, mich zu erreichen. Es gibt immer noch nichtöffentliche Kanäle.

Im Wiedergeburtszentrum der Neuen Kirche lege ich mich auf einen babyblauen Tisch, der an Seilen über dem großen Taufbecken pendelt. Der Priester liest die Worte des Ritus, während der Anästhesist mir meine Atemmaske und den intravenösen Zugang anlegt.

Das Letzte, was ich erblicke, ist das Lächeln von Schwester Ruth, während ich in die zähe, milchige Flüssigkeit sinke. »Wir werden uns bald wiedersehen, Anne.«

Im Taufteich werden meine Zellen neu aufgebaut, meine DNA wird umgeschrieben, so dass ich niemals mehr als Anne Whitman identifiziert werden kann. Nur so lassen sich meine Daten restlos ausradieren. Nach dem Auftauchen und Erwachen werde ich mein eigenes Gesicht im Spiegel nicht wiedererkennen. Aber ich werde neu geboren sein, neu erschaffen, ohne die Last der Vergangenheit. Blitzsauber, alle Sünden abgewaschen.

Als Gegenleistung schulde ich der Neuen Kirche sieben Jahre Frondienst. Sieben Jahre, um sie von innen zu studieren, ihre Geheimnisse zu erfahren, um alles, was ich finde, mitzuteilen.

Diesmal werde ich eine schlauere Sünderin sein. Ich werde die Regeln dieser neuen Welt lernen; ich werde meinen Widerspruch geheim halten. Ich werde die Orte entdecken, auf die das allsehende Auge nicht blickt. Sie werden mich nie wieder erwischen.

Der Autor

Eden Fenn entwickelt Software und begeistert sich für In-vitro-Fleisch. Sie schreibt Sciencefiction-Romane und lebt mit ihrer Frau in Baltimore.

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