Futur III: Empfänger nicht angetroffen
Von einer der üblichen Semesterabschluss-Partys im Institut für Astronomie sollte man sich keine großen Überraschungen erwarten. Professor Witcher sitzt vor dem Schachbrett und analysiert klassische Strategien von Großmeistern. Wehe, ein Grünschnabel ist dumm genug, ein Spiel vorzuschlagen: Professor Witcher schlägt ihn vernichtend. Frau Professor Hutton hält Hof inmitten der Schar ihrer Doktorandinnen. Professor Thale ist das Musterbeispiel eines Introvertierten. Er steht allein in einer Ecke, hält sich an seinem Bier fest und gibt vor, von den Buchrücken im Regal der Institutsbibliothek fasziniert zu sein.
Auch ich neige zur Eigenbrötelei, aber für Studenten höherer Semester ist die Teilnahme an der Institutsparty Pflicht. Diesmal wollte ich eigentlich nur kurz vorbeischauen, ein wenig mit dem Vorstand plaudern und mich bald wieder im Labor verkriechen. Meine Dissertation ist demnächst fällig, und die Arbeit macht nur zähe Fortschritte.
Aber als ich Professor Sanders erblickte, revidierte ich meinen Plan. Vor drei Jahren war ich sein Vorlesungsassistent gewesen und hatte dabei den Eindruck gewonnen, er sei Anwärter auf den Titel »Klügste Person im Raum« – und zwar in jedem Raum. Selbst wenn eine Party dafür nicht den idealen Rahmen abgab, war dies doch eine seltene Gelegenheit, seine Meinung zum Stand meiner Doktorarbeit einzuholen.
Professor Sanders saß ganz allein da und machte ein Gesicht wie jemand, der tief in Gedanken versunken ist. Nach den üblichen Begrüßungsformeln versuchte ich das Gespräch auf meine Forschung zu lenken, aber er unterbrach mich. Er zog ein Smartphone aus der Tasche, tippte darauf und hielt es mir hin. »Was sehen Sie da?«
Es war das bekannte Bild des kosmischen Strahlungshintergrunds. Wie jeder Anfänger weiß, zeigt es das Nachglühen des Urknalls, das wir nun – 13,8 Milliarden Jahre später – als Mikrowellen mit einer Strahlungstemperatur von 3 Kelvin beobachten. Die Falschfarben des ovalen Bilds codieren die winzigen Temperaturschwankungen der Hintergrundstrahlung über den gesamten Bereich des Sternenhimmels.
Ich fragte Professor Sanders, ob er mir damit eine Fangfrage stellen wolle. Er tippte auf sein Smartphone. Ein anderes Bild erschien.
Es zeigte das Abstract eines 2006 in der Zeitschrift Modern Physics Letters publizierten Artikels. Die Autoren S. Hsu und A. Zee hatten die Frage aufgeworfen, ob der kosmische Strahlungshintergrund eine Botschaft enthalte. Angenommen, das Universum hätte einen Schöpfer (sie behaupteten nicht, es sei so!) und dieser habe den Wunsch gehabt, den künftigen Bewohnern des Universums eine Botschaft zu hinterlassen – wie hätte er das geschafft?
Die Schlussfolgerung der Autoren lautete: Die Nachricht könnte im Prinzip in Form winziger Temperaturfluktuationen in den Urknall einprogrammiert worden sein. Während das Universum sich ausdehnte und abkühlte, wären die Fluktuationen – das hypothetische Wasserzeichen des Schöpfers – im Strahlungshintergrund erhalten geblieben. Noch nach Milliarden Jahren könnten intelligente Wesen die Nachricht lesen, sofern sie die erforderliche Technik entwickelten.
Der Artikel war auf wenig Interesse gestoßen. Meine Institutskollegen hatten ihn »Die himmlische Reklamewand« getauft. Über den Inhalt der Botschaft machten wir nerdige Studentenwitze: »42«, »Bitte Bauanleitung beachten«, »Diese Seite bleibt absichtlich leer« und so weiter. Erstsemestrige sind nun einmal ein respektloser Haufen. Das Ganze war pure Spekulation, eine intellektuelle Spielerei. Mich überraschte, dass Professor Sanders sich dafür interessierte.
Der Professor nahm sein Smartphone zurück. »Die Autoren versuchen abzuschätzen, wie viel Information – gemessen als Anzahl der Bits – in einer kosmischen Mikrowellenbotschaft codiert sein könnte. Sie kommen zu dem Schluss, dass eine Nachricht von interessanter Länge nur dann verständlich wäre, wenn sie auf einen bestimmten Beobachter gerichtet würde, auf einen speziellen Ort im Raum und in der Zeit des späteren Universums.«
Das verblüffte mich, weil ich noch immer nicht wusste, wie ernst Sanders es mit alldem meinte. Vermutlich drückte mein Gesicht vollkommene Gedankenleere aus. Ich murmelte etwas über Verletzung des kopernikanischen Prinzips, bedauerte das aber sofort: Wenn man einen Schöpfer postuliert, kann man die gängigen Regeln für ein homogenes und isotropes Universum getrost vergessen.
Professor Sanders hatte wohl das Gefühl, dass er ein paar Hintergrundinformationen nachliefern sollte, und hielt eine kleine Anfängervorlesung. »Unmittelbar nach dem Urknall war das Universum eine unvorstellbar dichte und heiße Brühe elementarer Teilchen. Erst als es expandierte und abkühlte, kombinierten sich Elektronen, Protonen und Neutronen zu neutralen Atomen. Auf einmal wurde das Universum transparent – das heißt, Photonen konnten sich frei ausbreiten und die kleinen Temperaturunterschiede bei ihrer letzten Streuung codieren. Das ist der kosmische Strahlungshintergrund, den wir heute sehen.«
Ich kam mir wie ein Idiot vor und bereute schon, dass ich Professor Sanders überhaupt in ein Gespräch gezogen hatte. Aber dennoch schien es mir notwendig, irgendetwas zu antworten. »Ähm … also das Problem besteht darin, dass der Abstand zum letzten Streuvorgang für Beobachter an unterschiedlichen Orten unterschiedlich groß ist? Zwar sieht jeder dieselbe kosmische Mikrowellenstrahlung, jeder stimmt bezüglich der Statistik des Strahlenhintergrunds überein, aber nur ein bevorzugter Beobachter – ein spezieller Punkt in der Raumzeit – könnte die besonderen Strahlungsfluktuationen sehen, in denen die Botschaft codiert ist?«
Ich versuchte zwar tapfer den Eindruck zu erwecken, ich könne der Diskussion folgen, aber zugleich kam mir das alles völlig verrückt vor.
Professor Sanders nahm einen kräftigen Schluck Whisky. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass er ein Glas in der Hand hielt. Ich hatte ihn immer für einen konsequenten Abstinenzler gehalten. Er nickte: »Ja, gewiss mutet das absurd an. Aber man soll den Sachen auf den Grund gehen. Also schickte ich die veröffentlichen Messdaten des Strahlungshintergrunds einer Freundin. Sie ist Expertin für computerlinguistische Datenverarbeitung, und außerdem … na ja, sie verdient ihren Lebensunterhalt als Hackerin. Ich bat sie, die Daten durch eine öffentlich zugängliche Kryptologie-Software laufen zu lassen – nur um nachzusehen, ob sich darin eine Botschaft versteckt oder nicht. Natürlich war ich überzeugt, sie würde nichts finden, und ich wäre fertig mit der ganzen Sache.«
Der Gesichtsausdruck des Professors verdunkelte sich. Er sah drein, als hätte jemand eben seinen Hund erschossen. Schnell goss er sich einen neuen Drink ein, beugte sich verschwörerisch vor und sprach mit leiser Stimme weiter.
»Leider nicht ganz. Mittels informationstheoretischer Techniken vermochte meine Freundin nachzuweisen, dass es anscheinend tatsächlich ein Signal gibt – eine Botschaft im kosmischen Hintergrund –, aber sie ist verstümmelt! Der ganze verfluchte Sternenhimmel ist mit der Nachricht vollgepflastert – und wir können sie nicht lesen!«
Ein peinliches Schweigen entstand. Das war zweifellos ein Schock. Dabei fragte ich mich, ob Professor Sanders mich auf den Arm nehmen wollte oder ob er übergeschnappt war. Aber er machte einen ernsthaften und vernünftigen Eindruck.
Außerdem schien er deprimiert zu sein, und das verstand ich nicht. Ich wies ihn auf das Offensichtliche hin: Wäre das nicht eine der größten Entdeckungen in der Geschichte der Menschheit? Aus der Existenz einer kosmischen Botschaft – auch wenn die Menschen sie nicht verstehen – folgt doch, dass es Wesen gibt, die sie produzieren. Alle Glaubenssysteme müssten neu überdacht werden, vielleicht sogar die Bedeutung des menschlichen Daseins. Bevor ich fortfahren konnte, winkte Professor Sanders verächtlich ab.
»Das ist noch nicht alles. Ich habe das Erscheinungsbild der Hintergrundstrahlung für verschiedene Beobachter berechnet, um die Verzerrung der Botschaft zu verstehen. Das Ergebnis ist eindeutig: Mit der Nachricht wurde wirklich auf uns gezielt – das heißt genauer gesagt auf unsere Galaxis.«
Professor Sanders trank sein Glas auf einen Zug leer und stand auf. Er schwankte unsicher.
»Die Botschaft wäre vollkommen verständlich für die Empfänger, für die sie bestimmt war – allerdings nur dann, wenn sie vor etwa fünf Milliarden Jahren entschlüsselt worden wäre.«
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