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Futur III: Quantenflosser

Ein Fang aus einer anderen Welt
Der Komoren-Quastenflosser ist ein gutes Beispiel für mden Lazaruseffekt

Mein Onkel war der Erste, der mir von den Löchern zwischen den Welten erzählte. Unsere Familie lebt schon seit Generationen auf diesem Berg. Entsprechend viele Verwandte habe ich in den Weilern, die sich an seine Flanken und Hänge schmiegen. Onkel Max, der Bruder meiner Mutter, wohnt sogar im selben Dorf.

In letzter Zeit ist er oft bei uns zu Hause. Mamas Gesundheitszustand hat sich nämlich rapide verschlechtert, und wir können uns die nötige Behandlung in München nicht leisten. Besser gesagt: Noch nicht, denn ich werde das ändern – und zwar mit dem Wissen, das ich meinem Onkel abgerungen habe.

Zunächst wollte er mir nichts über seine Arbeit als Hausmeister in der Forschungsanlage zwischen Dorf und Gipfel erzählen. Irgendwelche Verschwiegenheitserklärungen und seine Angst vor einer saftigen Strafe.

»Mama stirbt«, entgegnete ich daraufhin und schauderte selbst bei meinen Worten. »Hilf mir, sie zu retten! Bitte!«

An Max' Gesichtsausdruck konnte ich erkennen, dass das getroffen hatte. »Du bist schrecklich, Anja. Aber du hast Recht. Was willst du wissen? Und was hast du vor?«

Das wiederum wollte ich ihm lieber nicht verraten, falls er doch noch kalte Füße kriegen sollte. Es genügte, wenn er mir einfach so viel wie möglich erzählte.

Natürlich haben wir alle Gerüchte gehört, was die in ihrer Anlage und ihren Laboren treiben. Darüber, dass sie eine Portal-Technologie entwickeln, um die Rohstoffe weitgehend deckungsgleicher Parallelwelten zu erschließen.

Bis dato, verriet mir mein Onkel, sei ihnen das bestenfalls in Ansätzen gelungen. »Die Portale, die sie mit ihren Maschinen erzeugen, sind launisch wie Berggeister. Überall in der Anlage tauchen sie plötzlich auf, nur um nach einer halben Minute wieder zu verschwinden. Manchmal auch außerhalb des Zauns.«

»Und haben sie schon etwas aus einer anderen Welt rüberholen können?«, fragte ich.

»Ein paar Fische, wenn die Löcher über dem Fluss erscheinen und die Forscher schnell sind. Auf der anderen Seite wimmelt es gerade nur so vor Fischen. Vermutlich Laichzeit. Deinem Großvater hätte das gefallen; du weißt ja, wie gern er angeln ging.« Mein Onkel hielt die Hände ungefähr 30 Zentimeter auseinander. »So groß sind die Fische von drüben. Sehen aus wie diese Quastenflosser. Die Wissenschaftler nennen sie deshalb Quanten-Flosser. Wegen der Quanten, um die es bei den Portalen und den Parallelwelten geht. Du weißt schon.«

Ich hatte an Diebstahl oder Industriespionage gedacht. Aber man muss nehmen, was das Leben einem anbietet, wie mein Großvater immer sagte

Ich nickte und legte mir gedanklich bereits einen Plan zurecht. Bisher hatte ich eher instinktiv gewusst, dass die Forschungseinrichtung meine beste Chance ist, schnell an Geld zu kommen und Mama zu helfen. Allerdings hatte ich an Diebstahl oder Industriespionage gedacht, nicht an Fische aus einer anderen Realität. Aber gut, man muss nehmen, was das Leben einem anbietet, wie mein Großvater zu sagen pflegte. Und für einen dieser Quantenflosser dürften Konkurrenzunternehmen, Reporter, Zoos oder Schickimicki-Restaurants sicher viel hinblättern.

Genug, um Mamas Therapie zu bezahlen.

Deshalb stehe ich nun hier am Fluss im Wald, direkt neben dem hohen Metallzaun, der die Forschungsanlage umgibt und unter dem das Wasser hindurchströmt. Mit einem alten Kescher, einer festen transparenten Plastiktüte (falls der Fisch lebt) und einer zerschrammten, eisgefüllten Kühlbox (falls der Fisch beim Übertritt stirbt).

Seit fünf Tagen komme ich her und warte darauf, dass sich über dem Wasser ein Loch in der Wirklichkeit auftut, so dass ich auf der anderen Seite einen dieser Quantenflosser fangen kann.

Vorgestern habe ich eines der Portale gesehen, aber ich war zu weit weg und zu langsam.

Mein Großvater hat mir das Angeln beigebracht, und er sagte immer, dass es Zeiten gibt, in denen man sich vor Bissen kaum retten kann – und solche, in denen Geduld und Ruhe der Schlüssel sind.

Stundenlang dasitzen und den gurgelnden Strom beobachten, ist dennoch total langweilig. Doch ich tu es für Mama. Außerdem muss ich wachsam bleiben: Ich könnte ein Portal verpassen oder es versäumen, mich vor den metallenen Wachhund-Bots zu verstecken, die hinter dem Zaun patrouillieren. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass es die Leute hier nicht mögen, wenn man vor ihrem Areal rumhängt und offensichtlich darauf lauert, ihnen eine Alternativwelt-Forelle zu mopsen.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass es die Leute hier nicht mögen, wenn man darauf lauert, ihnen eine Alternativwelt-Forelle zu mopsen

Dann ist es endlich so weit.

Vor mir, einen Meter über dem Fluss, materialisiert sich eine aufrecht stehende Scheibe aus grellem Licht, mit dem Durchmesser eines aufgespannten Regenschirms.

Ich schnappe meinen Kescher und hüpfe ins kühle Wasser, das mir bis über die Schienbeine geht. Das Portal gleißt grell, und ich höre ein fremdes Rauschen darin, daraus, dahinter: der Fluss auf der anderen Seite. Ich denke nicht an Strahlung oder sonst was, stoße meinen Kescher in das Licht und fange an, blind drüben im Wasser herumzustochern. Plötzlich spüre ich ein Gewicht im Netz, das meine Muskeln fordert. Hastig hole ich den Kescher wieder auf meine Seite.

Prompt schließt sich das Portal ohne einen Laut, als hätte es die Öffnung zwischen den Welten nie gegeben.

Ich stehe im Fluss, der unbeeindruckt um mich herumfließt, und bestaune den Fisch im Kescher: grünblaue Schuppen, so groß wie mein Onkel gesagt hat, mit vielen gezackten Flossen, die eher wie Drachenflügel aussehen. So einen Fisch habe ich noch nie gesehen.

Ich wate aus dem Strom und befördere den zuckenden Quantenflosser in die halb mit Wasser gefüllte Tüte, die ich gewissenhaft zuzwirble. Es ist nicht perfekt, aber es muss reichen – daheim werde ich meinen Fang in die Badewanne packen, bis ich meine Fotos verschickt und meine Angebote eingeholt habe.

Ich halte mir die Tüte vors Gesicht und mustere den Fisch, der heftig mit den Kiemen pumpt und mich schockiert anzustarren scheint.

»Bitte warten Sie auf unsere Mitarbeiter!«, ertönt es da unvermittelt hinter mir. Die Stimme klingt weder menschlich noch künstlich – ich weiß nicht, ob sie zu einer Person oder einer KI gehört. Also drehe ich mich um.

Auf der anderen Seite des Zauns lauert einer der mechanischen Wachhunde. Der vierbeinige Roboter, der an einen Dobermann erinnert, besteht nur aus Metall, Servos, Gelenken, Chips, Kabeln. Ich kann quasi spüren, wie er mich und den Fisch scannt.

Ich umfasse den Hals der Tüte fester und gehe los.

»Sie sind im Begriff, Gefahrgut und obendrein Eigentum dieser Firma zu entwenden«, warnt die Stimme, die entweder dem Robo-Hund gehört oder einem Menschen, der durch ihn spricht. »Bleiben Sie, wo Sie sind!«

»Leckt mich!«, fauche ich und renne los.

»Tor SW-J3 öffnen«, befiehlt die Stimme – jedoch nicht mehr an mich gewandt.

Ich folge dem Fluss, der mich vom Forschungsgelände fortführt, tiefer in den Bergwald. Beim Rennen werfe ich einen Blick über die Schulter. Der Metalldobermann ist mir auf den Fersen und frisst in gespenstischer Lautlosigkeit den Abstand zwischen uns.

Ich ändere mit einem Haken die Richtung und presche zwischen den Bäumen auf einen Steilhang zu, der sieben, acht Meter senkrecht abfällt. Ich hoffe, dass das Ding hinter mir lediglich fürs Rennen und nicht fürs Klettern konstruiert wurde.

Das Problem, wie ich selbst mit nur einer Hand (und der Fischtüte in der anderen) den Abstieg meistern soll, kommt gar nicht erst auf. Gerade als ich die Kante erreiche, hat mich der Hightech-Hund eingeholt und springt mich an.

Sein Schwung trägt ihn sogar über mich hinweg.

Wir stürzen nach unten.

Ich lande relativ weich in einem Busch, der Cyborg-Köter kommt auf einem Felsbrocken auf. Metall trifft kreischend auf Stein. Die langen Beine des Bots zucken unkontrolliert und träge. Funken sprühen.

Leider habe ich, als das Vieh mich gerammt hat, die Tüte mit dem Quantenflosser losgelassen. Stöhnend kämpfe ich mich aus dem Gebüsch – und sehe gerade noch, wie der Fisch mit reiner Muskelkraft seitwärts über den Boden hüpft und in den Fluss eintaucht, der nach einer Biegung angerauscht kommt.

Platsch!

Und weg ist der kostbare Quantenflosser.

Fuck.

Wenn ich nicht in meinen Emotionen ertrinken würde, bekäme ich jetzt sicher Panik, weil ich ein Wesen aus einer anderen Welt auf das hiesige Ökosystem losgelassen habe. Doch ich denke nur an meine Mutter. Ich habe keinen zweiten Versuch: Nach meiner Aktion werden die bestimmt den Zaun versetzen oder bei den Cyber-Tölen aufrüsten. So leicht komme ich nie mehr an eines der Portale.

Wütend trete ich gegen den zerschellten Metallhund, der nicht mal mehr zuckt. »Du Scheißteil!« Heiße Tränen rinnen über mein Gesicht.

Auf einmal kann ich förmlich die Stimme meines Großvaters hören, der mich ermahnt, ruhig zu bleiben – und das Beste aus dem zu machen, was das Leben zu geben bereit ist.

Mein Blick gleitet über den Kadaver des Robo-Dobermanns, seine hoch entwickelten kybernetischen Teile und das elektronische Innere, das ich durch die zerfetzte Hülle sehen kann.

Da ich nicht weiß, wann weitere Verfolger kommen, wische ich meine Tränen fort und fange an, in den Eingeweiden der Maschine nach etwas zu wühlen, das wertvoll und tragbar ist, am besten Chips oder Batterien.

Bei Quanten geht es um Möglichkeiten – und vielleicht hat der Quantenflosser mir am Ende ja doch eine verschafft.

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