Futur III: Möglicherweise ein Abschiedsbrief
Liebe Marie, dies ist möglicherweise ein Abschiedsbrief. Ich wähle diesen Weg, weil ich nicht weiß, wie viel Zeit sie mir noch lassen, und da ich schneller schreiben kann als sprechen.
An den Tag, als wir uns kennen lernten, erinnere ich mich gut: Ich war einer der Wissenschaftler im Raumfahrtprogramm, ein Programmierer, einer von einigen hundert. Du warst eine Topkandidatin für die Auswahl der Astronauten, eine von zehn. Für mich warst du von Anfang an die Einzige. Dabei hat es eine Weile gedauert, dich auf mich aufmerksam zu machen. Kein Wunder! Um dich waren immer Menschen, die dich umschwärmten wie Bestäuberdrohnen eine Obstplantage im Sommer. Ärzte, Manager, Missionsspezialisten, Wissenschaftler ...
Es ist keine Kleinigkeit, in den Kuipergürtel zu fliegen, in jenen Teil unseres Sonnensystems, der jenseits des Neptuns liegt. Ich weiß es, denn es war das dritte Mal, dass wir es versuchten. Wir wollten dorthin, denn irgendein Radioteleskop hatte dort etwas aufgespürt, ein kurzes Signal von einem Kleinplaneten namens MakeMake. Nur ein Husten, ein Augenzwinkern, aber die Wissenschaftler drehten fast durch vor Neugier und Begeisterung.
Erst schickten sie Drohnen, speziell trainierte KIs. Nicht viel schlauer als gelehrige Haustiere, denn du weißt ja, dass allzu menschliche KIs seit dem Finanzcrash nicht gern gesehen sind. Eigentlich haben wir mit solch einfachen Drohnen gute Erfahrungen gemacht, doch diesmal ging es schief. Sie meldeten sich nicht mehr. Daher bauten die Ingenieure ein Riesenschiff für eine menschliche Besatzung und schickten es los.
Das erste Mal musste die Crew auf halber Strecke abbrechen, und es war ein Wunder, dass die Rückkehr gelang. Der Gürtel ist selbst an seiner nächsten Stelle über 30-mal so weit von der Sonne entfernt wie die Erde. Jedes Funksignal von hier nach dort ist mehr als vier Stunden unterwegs. Das war, was der Crew der ersten Mission – Moto Nui One – fast zum Verhängnis wurde. Ein Verteilersystem der Heizanlage gab den Geist auf, und die Reparaturanleitung war viereinhalb Milliarden Kilometer entfernt. Nun, sie haben es überlebt, aber es war knapp.
Trotzdem haben sich die Wissenschaftler, und damit meine ich die wirklich klugen Wissenschaftler, nicht die Hilfskräfte, wie ich eine bin, für euer Schiff etwas überlegt. Den Finanzcrash hatte ich ja erwähnt, aber weißt du, wie sie den Markt damals wieder stabilisiert haben? Ebenfalls mit KIs, aber mit richtig guten. Denk an die KI, ich glaube, sie hieß Tiny Bob, die das Triebwerk der Moto Nui One entworfen hat. Sie schickten also ein paar von den Dingern mit, um solche Krisen abzufedern.
So kam ich ins Spiel: Ich war bei Moto Nui One nicht dabei gewesen, doch sie holten meine Firma ins Boot, weil ich mich mit der Installation der KI-Kerne auskannte. Wie genau die Intelligenzen helfen sollten, verstand ich damals nicht. Es war mir auch egal, bis ich dich traf. Ab da verbrachte ich meine Tage damit, die KIs zu pflegen.
Nachts versuchte ich, deine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Ich begann, kleine Widgets und Apps in euren Trainingssystemen zu verstecken. Kitschiges Zeug: kleine Herzchen, die für ein Augenzwinkern erschienen, wenn du deine Konsole aktiviertest, oder Melodien, die abgespielt wurden, wenn nur du im Raum warst. Ganz legal war das nicht, und ich frage mich, ob es dir zuerst nicht ein wenig unheimlich war. Wie du weißt, gestand ich dir nach knapp vier Wochen Versteckspiel, dass ich der geheimnisvolle Hacker war, über den schon Gerüchte in Umlauf waren.
Ich weiß noch, wie du auf mein gestammeltes Geständnis mit einem ehrlichen Lächeln reagiert hast und vorschlugst, gemeinsam mittagessen zu gehen. Ab da lief alles glatt. Zwar sahen die Raumfahrtagenturen es nicht gern, wenn es in den Teams Beziehungen gab, aber mittlerweile warst du ihr Star, der Liebling der Medien. Kein Tag ohne dein Gesicht in den Vlogs. Deshalb drückten sie ein Auge zu.
Die Drohnen kamen bei MakeMake an – und verstummtenZwei Jahre dauerte die Vorbereitung der Mission, die mittlerweile Rapa Nui getauft worden war. Moto Nui Two erschien der PR-Abteilung dann doch als schlechtes Omen. Zwei wunderbare Jahre für mich, und ich denke, auch für dich. Wir kamen aus verschiedenen Welten, aber wir verstanden uns. Du hast mich nie spüren lassen, dass ich nur ein einfacher Programmierer war. Natürlich sahen wir uns nicht oft, doch die kurze Zeit zusammen kosteten wir aus. Unsere wenigen gemeinsamen Stunden in Port Gentil, der nächstgelegenen Stadt zur Missionsbasis, habe ich nie vergessen. Und das lag nicht nur am tropischen Wetter, den schneeweißen Stränden Afrikas und der Art und Weise, wie du am Meer entlanggeschlendert bist.
Weißt du noch, wie du die bläuliche Muschel im Sand gefunden und mir stolz gezeigt hast? Sie habe dieselbe Farbe wie der Neptun, hast du gesagt. Der Neptun, an dem du bald vorbeifliegen solltest. Die Bemerkung hat mein Herz zerrissen, auch wenn ich dir das damals nicht gesagt habe.
Als sich die zwei Jahre Vorbereitung dem Ende näherten, machte mich der Gedanke, dass du dich bald mit jeder Sekunde Hunderte von Kilometern von mir entfernen würdest, geradezu krank. Bald würdest du so weit weg sein, dass wir nicht mehr miteinander sprechen könnten.
Ich war nicht der Einzige, dem das Sorgen bereitete: Auch die wirklich klugen Köpfe ersannen Möglichkeiten, unmittelbarer mit der Crew zu kommunizieren. Hier kamen meine KIs ins Spiel.
Du hast die Idee beim ersten Briefing sofort verstanden: Sie installierten eine KI für jede Person, die mit der Rapa Nui kommunizieren sollte, ebenso gab es eine KI für jedes Crewmitglied. Die künstlichen Intelligenzen waren darauf optimiert, Personen zu imitieren.
Dazu mussten sie zunächst Daten sammeln: Wenn ich dich zum Beispiel im Med-Center bei den Gesundheitschecks anrief, erwachte mein KI-Spiegelbild in deinem Komknoten und lauschte, was ich dir zuflüsterte. Gleichzeitig merkte sich dein KI-Zwilling, den ich stets bei mir trug, genau, wie du gutmütig über meine Verliebtheit spottetest. Das ging auch so, wenn ich zwischendurch zu unserer Zentrale in Brüssel musste oder du nach Brook Park.
Wenn es nun zu winzigen Verzögerungen in der Übertragung kam, konnte die KI am jeweils anderen Ende einfach übernehmen: Bei den kleinen Aussetzern, wie sie im weltweiten Netz schon mal vorkommen, sagte die KI dann einfach »äh«, so wie ich es getan hätte, oder sie lächelte genau dein Lächeln, bei dem sich kleine Falten um deinen Mund bilden. Und mir fiel gar nicht auf, dass es streng genommen gar nicht du warst, die da gerade kurz innehielt, sondern deine KI. Im Hintergrund lief der Datenstrom dann weiter, und niemand merkte, dass die Übertragung kurz ins Stocken geraten war. Ich war nicht erstaunt, als ich hörte, dass die teuren, interkontinentalen Komverbindungen für die Topmanager seit Jahren genauso funktionierten.
Für die Rapa Nui wollten sie nun erstmals ausprobieren, was passierte, wenn die Pausen länger und länger wurden. Eigentlich war das nicht vorgesehen: Die KIs in den Komknoten waren nie länger als ein paar Sekunden online. Niemand hätte behaupten können, dass sie so etwas wie Intelligenz oder Empfindungsfähigkeit besitzen.
Bei den KIs eurer Mission sollte es anders sein: Sie mussten bei jeder Kommunikation die ganze Zeit voll mitlaufen – schließlich würden sie immer wieder einspringen und die Lücken bei der Kommunikation mit der Erde füllen. Es war völlig unklar, wie sie sich dabei entwickeln würden. Letztlich entschied eine Ethikkommission, dass es einen Versuch geben sollte. Zwei Direktoren der ESA und der NASA telefonierten täglich über eine Testverbindung. Die Verzögerung wurde innerhalb einiger Monate immer weiter erhöht, bis man bei fast zwei Stunden angelangt war. Dies bedeutete effektiv, dass der ESA-Direktor in Paris seinen Kollegen in Florida anrufen und ein komplettes Gespräch mit ihm führen konnte, ohne dass dieser überhaupt wach sein musste.
Natürlich war es keine Echtzeit-Kommunikation im eigentlichen Sinne: Die Informationen brauchten nach wie vor zwei Stunden, und Tatsachen, die der KI noch nicht bekannt waren, konnte sie auch nicht weitergeben. Dennoch eröffnete es die Möglichkeit, den Kontakt mit der Crew unmittelbarer zu gestalten, die Illusion von Echtzeit zu erzeugen. Was konnte daran falsch sein?
Dank der KIs konnten wir noch reden, als du längst die Jupiterbahn passiert hattestNichts war daran falsch. Falsch waren nur meine Blutwerte. Zwei Jahre lang hatte ich in einer Blase des Glücks mit dir gelebt. Dank der fleißigen KIs verlängerte sich dieser Zustand weiter und weiter, obwohl du mittlerweile die Jupiterbahn passiert hattest. Wir unterhielten uns täglich mit der KI des Partners, die immer wieder upgedatet wurde. Es war so, als würde ich wirklich mit dir reden.
Dabei näherte sich euer Schiff rasend schnell eurem Ziel. Während ich das hier niederschreibe, schwenkt die Rapa Nui in einen Orbit um MakeMake ein, und vielleicht wisst ihr morgen bereits, was die Quelle jenes eigenartigen Radioimpulses war.
Mir wird das nicht helfen, denn ich bin letzte Nacht von einem plötzlichen Fieberschub erwacht. Ich konnte noch den Notruf wählen, aber als der Rettungswagen mein Zimmer auf dem Campus erreichte, war ich schon bewusstlos. Das wirklich Verrückte ist, dass sich all das zutrug, während ich mit dir sprach.
Du hattest eine freie Stunde, während andere den Orbit vorbereiteten, der euch sicher um MakeMake verankern sollte. Als die Ärzte auf der fernen, so fernen Erde meinen Tod feststellten – ich starb an einem Virus, das erstmals vor drei Jahren in Gabun diagnostiziert worden war –, planten wir gerade unseren Urlaub nach deiner Rückkehr.
Das war vor sechs Stunden. Soeben ist die Information bei mir angekommen, dass ich bereits tot bin. Was bin ich nun? Ich kann sprechen, ich kann mich erinnern, ich kann denken – und ich kann dir diese E-Mail schreiben.
Aber ich werde mich nie wieder mit meinem Zwilling, meinem Original auf der Erde synchronisieren, denn der existiert nicht mehr. Was werden sie jetzt mit mir tun? Werde ich einfach gelöscht, um Speicher im Komknoten frei zu geben? Ich weiß es nicht. Ich weiß, dass ich ein Mensch bin. Ich weiß, dass ich dich liebe. Nur das macht mich noch aus.
Dein Phil
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.