Biologie der Sinne: Orientierung und Navigation
Woher bezieht ein Storch auf dem Flug nach Afrika die Informationen, die ihn auf dem richtigen Kurs halten? Wie findet eine Schildkröte über Tausende von Kilometern hinweg genau den Strand, an dem sie selbst aus dem Ei geschlüpft ist? Die Sinnesbiologie versucht seit vielen Jahren, solchen Fragen auf den Grund zu gehen. Die Ergebnisse sind faszinierend! Die Tiere sind in der Lage, ihre Umwelt so genau zu untersuchen, wie wir Menschen dies nur mit fortgeschrittener Technik können. Tiere sind echte »high-end user« derjenigen Informationsquellen, die für die Orientierung auf der Erde nützlich sind.
9.1 Wo bin ich?
Haben wir Menschen überhaupt einen Orientierungssinn? Wissen wir von selbst, wo es langgeht? Warum verirren wir uns im Wald oder in einer fremden Stadt? Nehmen wir den Wald. Wir haben unser Auto auf einem Wanderparkplatz am Waldrand abgestellt und sind dann mehrere Stunden lang tief in den Wald hineingegangen. An einer uns fremden Stelle im Wald, an der Bäume allen visuellen Bezug zur Landschaft versperren und alle Geräusche dämpfen, die uns verraten könnten, wo wir sind, sind die meisten von uns völlig hilflos. Vielleicht erinnert sich der eine oder andere an eine Methode, wie man mithilfe einer Uhr Süden finden kann: Man richtet den Stundenzeiger auf die Sonne. Richtung Süden geht es dann entlang einer Linie genau in der Mitte zwischen dem Stundenzeiger und der 12. Aber, was nützt es schon, dass man die Himmelsrichtungen kennt, aber nicht weiß, auf welchem Weg man aus dem Wald herauskommt? Liegt der Wanderparkplatz, wo unser Auto steht, südlich oder nördlich, westlich oder östlich? Meist haben wir nur eine vage und trügerische Ahnung davon. Ein besseres Hilfsmittel ist da ein GPS-fähiges Smartphone. Es ermittelt den eigenen Standort und stellt ihn auf einer Landkarte dar. Wenn auf dieser Karte auch der Wanderparkplatz eingezeichnet ist, finden wir schnell heraus, welche Richtung auf dem kürzesten Weg aus dem Wald herausführt.
Das Global Positioning System (GPS), eine Landkarte, eine Uhr mit Analoganzeige und einiges Pfadfindergrundwissen – wir brauchen schon einige Hilfsmittel, um uns in unbekanntem Terrain zu orientieren. Da erscheinen die Orientierungsfähigkeiten der Tiere vergleichsweise magisch. Wie ein Hund immer nach Hause findet, wie eine Biene über mehrere Kilometer hinweg zu ihrem Stock zurückfindet und wie eine Brieftaube Hunderte von Kilometern über unbekanntes Land hinweg zielsicher ihren Heimatschlag anfliegt – solche Leistungen scheinen uns unerklärlich. Aber das sind sie natürlich nicht; es sind Sinnesleistungen wie das Sehen oder das Hören. Es gibt spezialisierte Sinnesorgane und Sinneszellen dafür, und es gibt angeborene und erlernte Verarbeitungsprozesse in den Gehirnen der Tiere, mit denen Ortsinformation ausgewertet und interpretiert wird, nicht anders, als es die Sehrinde und Hörrinde in unserem Gehirn tun. Im Unterschied zu den menschlichen Sinnen sind jedoch die Orientierungssinne der Tiere weit weniger gut erforscht – ein großes und spannendes Arbeitsgebiet für zukünftige Biologen.
Auch Tiere verirren sich. Es kommt vor, dass Brieftauben verloren gehen, Zugvögel in falschen Gebieten auftauchen und Wale stranden. Es gibt eben eine Menge Informationen zu verarbeiten, um den richtigen Weg durch Wälder und Meere zu finden, und nicht immer kommen sie dabei zum richtigen Ergebnis. Die Informationsfülle, mit der Tiere sich in ihrer Welt zurechtfinden, ist wirklich bemerkenswert. Sie nutzen erlerntes Wissen über das Aussehen ihrer unmittelbaren Umgebung und über die Formen und Farben ganzer Landschaften. Sie werten tagsüber den Sonnenstand aus und nachts die Konstellation der Sterne. Sie analysieren das Polarisationsmuster des Sonnenlichtes und das Magnetfeld der Erde. Und sie erschnüffeln die chemische Zusammensetzung von Luft, Erde und Wasser, messen Windrichtung und -geschwindigkeit sowie Änderungen von Temperatur, Luftfeuchtigkeit und eine Fülle akustischer Signale. Nur wenn die Gesamtschau all dieser Daten stimmig ist und zu einem eindeutigen Ergebnis führt, können sich die Tiere orientieren und gehen nicht verloren. Es ist verblüffend, wie treffsicher sie darin sind!
9.2 Die Orientierung an chemischen Signalen
Vollkommen sicher werden anscheinend Ameisen entlang einer Ameisenstraße geleitet. Solche Straßen entstehen, wenn eine Ameise in einiger Entfernung vom Ameisenhaufen eine Futterquelle entdeckt hat. Bei ihrem Heimweg legt sie eine Duftspur an, die vielen Ameisen dazu dient, die Futterquelle vom Ameisenhaufen aus zu erreichen. Bald schnüffeln sich Tausende von Ameisen mithilfe ihrer Antennen an der Spur entlang, und praktisch kein einziges Tier kommt dabei vom Weg ab. Sie alle laufen die Straße entlang, verstärken dabei die Duftsignale und sorgen für Futternachschub in der Kolonie. Die chemische Orientierung funktioniert hier offensichtlich perfekt. Jedes Tier weiß genau, wie es zu seinem Ziel kommt. Und die Orientierung bedarf keiner komplizierten Analyse. Die Ameisen müssen nur ein einfaches Programm ausführen, und das heißt: »Laufen und niemals die Duftspur verlassen!« Mit dieser Methode können die kaum 1 cm großen Tiere mehrere Hundert Meter weit durch unbekanntes Gelände wandern. Voraussetzung für diese zuverlässige Navigation ist eine gut wahrnehmbare, ununterbrochene Duftspur. Sie führt die Ameisen genauso sicher durch die Landschaft, wie Gleise einen Eisenbahnzug führen.
Solche eindeutigen chemischen Signale sind aber selten in der Natur; meist müssen Tiere mit diffuseren chemischen Signalen auskommen und benötigen für die Navigation zusätzliche Information. Nehmen wir als Beispiel einen Schmetterling, ein Männchen, das einer Duftspur zu einem Weibchen folgen will. Die Duftspur, die zum Weibchen führt, verläuft durch die Luft, und sie ist keineswegs gerade und ununterbrochen. Vielmehr besteht sie aus vielen kleinen, vom Wind zerfaserten und zerrissenen Duftwölkchen, die durch Verwirbelungen in alle Himmelsrichtungen verteilt werden. Trotzdem kann der Schmetterling dieses scheinbar chaotische Signal auswerten. Er braucht dazu allerdings eine zweite Information: die Windrichtung. Denn eines ist klar: Der Lockstoff des Weibchens wird vom Wind verweht, und der Weg zum Weibchen verläuft gegen den Wind. Die Windrichtung zu bestimmen, ist für den Schmetterling leicht, solange er auf einer Pflanze sitzt. Beim ruhenden Tier registrieren empfindliche Sinneshaare die über den Insektenkörper streichende Brise. Schwieriger wird dies im Flug. Das Flügelflattern, der durch den Vortrieb entstehende Fahrtwind und die wetterbedingte Windströmung überlagern sich und sind sensorisch nur schwer auseinanderzuhalten. Wie findet das fliegende Männchen also heraus, woher der Wind weht? Vermutlich muss das Tier ermitteln, wie stark und in welche Richtung es während des Fluges vom Wind abgetrieben wird. Dazu braucht es seinen Sehsinn. Fliegt es beispielsweise auf einen Baum zu, und der Wind kommt von links, muss es ständig dagegen ankämpfen, nach rechts abgetrieben zu werden. Es verändert sein Flugverhalten, um seinen Kurs zu stabilisieren, und die Windrichtung ist ihm klar.
Mit dieser Information kann der Schmetterling nun der Duftspur zum Weibchen folgen. Er flattert zunächst suchend und ungerichtet herum. Wann immer er aber das Weibchen riecht, dreht er sich in den Wind und fliegt eine Weile gegen die Windrichtung. Wenn er die Spur verliert, wird wieder in alle Richtungen gesucht, bis das nächste Duftwölkchen das Signal zum Gegen-den-Wind-Fliegen gibt. Der Duft des Weibchens löst also beim Männchen ein einfaches Verhalten aus. Das Männchen bestimmt die Windrichtung und fliegt windaufwärts – ein sehr effektives Lotsenprinzip, das auf zwei Sinnesinformationen beruht, dem Riechen und dem Sehen.
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