Leseprobe »Der Mond«: Ein lunares Luftschloss
Die Hoffnung, außerhalb der Erde Leben zu entdecken, ist für die Menschen seit jeher eines der stärksten Motive für den Blick zum Himmel: Die Sterne, alle großen Planeten unseres Sonnensystems und nicht zuletzt unser Mond – sie alle galten einst als belebt und standen als mögliche Horte außerirdischer Wesen im Visier beobachtender Astronomen. Doch ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ernüchterte uns die mit immer raffnierteren Mitteln arbeitende Forschung durch die Einsicht, dass die Suche nach belebten Welten erheblich mühsamer ist als gedacht.
Selbst lichtstarke Riesenteleskope, Weltraumobservatorien mit empfindlichen Detektoren und mit Bohrern ausgestattete Planetenrover förderten noch keine belastbaren Beweise für außerirdisches Leben zu Tage. Daher mag es heute schwer fallen, sich in die Menschen früherer Jahrhunderte hineinzuversetzen, die sich die karge Kugel des nahen Erdmondes als belebten Himmelskörper vorstellten. Und doch ist es möglich, denn Amateurteleskope eignen sich gut, um genau das zu sehen, was noch im 19. Jahrhundert die Gemüter bewegte.
Während damals die Berliner Selenografen Johann Heinrich Mädler und Wilhelm Beer akribisch die Mondoberfläche kartierten und den Erdtrabanten als unbelebt und unveränderlich ansahen, suchte ein anderer – mit ebenso wachsamem Auge am Okular – nach Indizien für Vegetation und intelligente Wesen. Es war der 1774 geborene Franz von Paula Gruithuisen. Der Sohn finanziell schlecht situierter Eltern trat nach dem Besuch einer Chirurgenschule 1788 in den Dienst der österreichischen Armee und arbeitete später am Hof von Karl Theodor von Bayern. Mit Unterstützung des Kurfürsten studierte Gruithuisen sowohl Medizin als auch Naturwissenschaften. Als Mediziner sann er unter anderem darüber nach, wie sich Nieren- und Harnsteine auflösen lassen oder welche Empfindungen es in den Körpern Hingerichteter gibt.
Ein Arzt untersucht den Mond
Gruithuisens naturwissenschaftliches Interesse galt besonders der Geografie und Himmelskunde. Ab 1826 lehrte er als Professor in München Astronomie und befasste sich intensiv mit dem Mond. Verschiedene Quellen nennen ihn als den Ersten, der vermutete, dass die Mondkrater durch Einschläge kosmischer Körper entstanden seien – eine heute als richtig anerkannte Hypothese, die Gruithuisens Fachkollegen damals jedoch ablehnten. Bei der Untersuchung des Mondes verließ er sich nicht nur auf einen guten Fraunhofer-Refraktor, sondern auch auf seine lebhafte Fantasie. Die Ergebnisse und Interpretationen seiner Beobachtungen fasste Gruithuisen in einem Buch zusammen. Es erschien im Jahr 1824 unter dem Titel »Entdeckung vieler deutlicher Spuren der Mondbewohner, besonders eines colossalen Kunstgebäudes derselben«. Darin stellt der Autor einleitend fest: »Es gehört mit zu den dringendsten Aufgaben der Naturforscher, zu bestimmen, welche Höhe die Organisation auf dem Monde bereits erreicht habe.«
Gruithuisen berichtet nun, erstmals am 12. Juli 1822 einen »unsern Städten nicht unähnlichen Bau« gesehen zu haben, »als kurz nach dem letzten Viertel die Lichtgränze über den westlichen Rand des Clavius, des Mondflecken Schröters und des Newton … gieng«. Und voller Überzeugung stellt er fest: »Dieses ungewöhnliche Mondgebilde fällt jedem geübten Auge, mit dem ersten Blicke sogleich, als Kunstwerk auf.« Seine visuellen Eindrücke skizzierte er am Okular und veröffentlichte sie ebenfalls in dieser Arbeit (siehe Bild S. 17 links, in dieser Leseprobe nicht enthalten).
Wenn Sie selbst einmal versuchen, Gruithuisens Zeichnung mit dem Anblick im eigenen Teleskop zu vergleichen, werden Sie feststellen, dass es keineswegs einfach ist, die Formation zu sehen. Als Aufsuchhilfe kann der erwähnte »Mondflecken Schröters« dienen, in den die Formation eingebettet ist. Das relativ dunkle Gebiet befindet sich nahe der Mitte der Mondscheibe, westlich des Kraterpaars Murchison/Pallas. Innerhalb des Fleckens sehen Sie auch recht einfach den Krater Schröter W, der Gruithuisens Formation nach Süden begrenzt. Bei niedrigem Sonnenstand, um das erste und letzte Viertel herum, hebt sich das Detail als annähernd rautenförmiges Gebiet von der Umgebung ab. Aber selbst dann erfordert es noch einige Mühe, sich dieses Gebilde als »Erzeugniß eines selenitischen Fleißes« vorzustellen, wie Gruithuisen es formulierte.
An anderer Stelle verewigt
International ist die Formation heute auch als »Gruithuisens Mondstadt« (englisch: Gruithuisen’s lunar city) bekannt. In modernen Verzeichnissen von Mondformationen werden Sie allerdings vergeblich nach ihr suchen. Dennoch gibt es auf dem Mond so etwas wie einen Ort des offziellen Gedenkens an den astronomisch bewanderten Arzt: Mehrere nach ihm benannte Formationen finden sich »links oben« auf der Mondscheibe, unweit der Mitte zwischen dem hellen Krater Aristarch und der auffälligen Regenbogenbucht (Sinus Iridum) – im lunaren Koordinatennnetz bei rund 33° nördlicher Breite und 40° westlicher Länge. Hier gibt es den rund 16 km großen und 1900 m tiefen Krater Gruithuisen mit seinen zehn Nebenkratern Gruithuisen B bis S.
Bei flachem Lichteinfall sehen Sie außerdem die beiden Berge Gruithuisen Delta und Gruithuisen Gamma, die ebenfalls einen Blick durch das Teleskop wert sind. Sie entstanden vor mehreren Milliarden Jahren durch silikatreiches Magma, das zähflüssig zur Oberfläche aufstieg und dort erkaltete. Am eindrucksvollsten erscheinen die Krater und Berge etwa drei Tage nach dem ersten Viertel und zwei Tage nach dem letzten Viertel – dann, wenn das »colossale Kunstgebäude«, das Gruithuisen voller Stolz beschrieb, mangels Kontrast oder Helligkeit unsichtbar bleibt.
Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.