Die zweite Quantenrevolution: Große Macht
Mit drei Problemen fing alles an:
- Max Planck konnte sich im Jahr 1900 nicht erklären, dass sogenannte Schwarze Körper Energie nicht in beliebigen Mengen, sondern nur in »Energiepäckchen« einer bestimmten Größe abstrahlen.
- Albert Einstein sah sich 1905 zu der Interpretation gezwungen, dass Licht »gleichzeitig« Welle und Teilchen ist.
- Ernest Rutherford entdeckte 1912 in einem aufsehenerregenden Experiment, dass das Atom aus einem Kern aus Protonen besteht, um den Elektronen herumkreisen; dies ist aber nach den Gesetzen der klassischen Physik gar nicht möglich.
Mit diesen drei Phänomenen im Gepäck begaben sich die Physiker im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts auf eine der aufregendsten intellektuellen Reisen in der Geschichte der Menschheit. Von den sicheren Küsten der klassischen Physik brachen sie auf, um wie die Seefahrer des 15. und 16. Jahrhunderts auf ganz neuen Wegen einen unbekannten Ozean zu überqueren und zu erforschen, was sich auf seiner anderen Seite befindet.
Ihre Experimente führten ihnen immer klarer vor Augen, dass einige grundlegende Eigenschaften der Welt der Atome sich weder in unsere Alltagsvorstellungen noch in das bewährte Begriffssystem der abendländischen Philosophie einordnen lassen:
- Superposition:
Quantenobjekte können sich in einer Überlagerung von verschiedenen, sich klassisch ausschließender Zuständen befinden. Sie können sich beispielsweise zeitlich parallel entlang unterschiedlicher Pfade bewegen, also gleichzeitig an verschiedenen Orten sein. - Zufälligkeit im Verhalten:
Die messbaren Eigenschaften eines Quantensystems sind in ihrem zeitlichen Verhalten nicht mehr eindeutig bestimmt. Mit der Möglichkeit beispielsweise, gleichzeitig hier und an einem anderen Ort sein zu können, lässt sich sein beobachtbares Verhalten nur noch mit Wahrscheinlichkeiten beschreiben. - Abhängigkeit eines Quantenzustandes von der Messung:
In der Mikrowelt haben Messungen einen direkten Einfluss auf das zu messende Objekt. Es ist sogar noch bizarrer: Erst die Messung weist einem Quantenteilchen einen bestimmten Zustand zu. Im Grunde bedeutet dies: Quantenteilchen besitzen keine unabhängigen und objektiven Eigenschaften. Eine jede Eigenschaft erhalten sie erst durch den Akt einer Beobachtung. - Verschränkung:
Quantenteilchen können nichtlokal miteinander verbunden sein. Selbst wenn sie räumlich weit voneinander entfernt sind, können sie einer gemeinsamen physikalischen Entität (die Physiker sagen: einer einzigen »Wellenfunktion«) angehören, sodass sie wie von Geisterhand miteinander gekoppelt sind.
Jede dieser Eigenschaften der Mikrowelt verletzt eine von vier wesentlichen traditionellen philosophischen Prinzipien:
- das »Eindeutigkeitsprinzip«, nach dem sich die Dinge in jeweils eindeutigen Zuständen befinden (der Stuhl steht vor dem Fenster und nicht neben der Tür);
- das »Kausalitätsprinzip«, nach dem jeder Effekt eine Ursache haben muss (wenn der Stuhl umfällt, muss eine Kraft auf ihn eingewirkt haben);
- das »Objektivitätsprinzip« (damit verbunden: das »Realitätsprinzip«), nach dem den Dingen eine von unserer subjektiven Wahrnehmung unabhängige, objektive Existenz zukommt (wenn wir den Raum verlassen, bleibt der Stuhl genau dort, wo er steht, und ist auch noch da, wenn wir ihn nicht mehr betrachten); und
- das »Unabhängigkeitsprinzip«, nach dem die Dinge sich einzeln und unabhängig voneinander verhalten (der Stuhl wird nicht von der Tatsache beeinflusst, dass im Nebenraum ein weiterer Stuhl steht).
Seit über 2500 Jahren setzen sich Philosophen mit den existentiellen Fragen der Menschheit auseinander. Demokrit hatte sich gefragt, ob sich Materie endlos teilen lassen kann und war zum Schluss gekommen, dass es unteilbare kleinste Teilchen geben muss, die Atome. Parmenides war auf der Suche nach der letztendlichen und unveränderlichen Substanz gewesen. Aristoteles und Platon hatten sich dafür interessiert, in welchem Verhältnis wir als Beobachter zum Beobachteten stehen. Es folgten hundert Generationen von Philosophen, die unermüdlich nach Klarheit und schlüssigen Beschreibungen der Welt suchten. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde offenbar, dass viele der durch gründliche und unermüdliche Überlegungen gefundenen philosophischen Prinzipien nur für einen Teil der Welt gelten.
Quantenphysiker – von Magiern zu Ingenieuren
Mussten den Physikern die Phänomene und Eigenschaften der Mikrowelt anfangs noch wie Magie erscheinen, so lernten sie mit der Zeit, wie man diese Zauberwelt, wenn man sie schon nicht vollständig verstehen kann, mit mathematischen Mitteln und Tricks immer genauer berechnet und schließlich bändigt. Ihr intellektueller Höhenflug führte die Physiker zu einer Theorie, die die beobachteten merkwürdigen Phänomene der Mikrowelt erklärte, wenn auch mit ganz neuen Prinzipien und Begriffen: zur »Quantentheorie«. Mit dieser theoretischen Basis wurden die Physiker von Magiern wieder zu Wissenschaftlern und später dann auch zu Ingenieuren. Denn die neue Theorie ermöglichte zahlreiche so erstaunliche wie ungeheure Technologien. Die erste davon erwuchs, als die Physiker ihre quantenphysikalischen Modelle auf den Atomkern anwendeten. Denn dabei erkannten sie: Hier findet sich eine gewaltige Menge an Energie.
In den Jahren, in der die Welt um sie herum in zwei Weltkriegen ins politische Chaos abkippte und ganze Städte dem Bombenhagel der Kriegsparteien zum Opfer fielen, mussten die Physiker den Einsturz ihrer eigenen althergebrachten Denkgebäude verkraften. Und dann entwickelten sie aus ihrer bizarren neuen Theorie eine Technologie, die mit einem Schlag nicht nur einzelne Straßenzüge, sondern ganze Städte und Regionen zu vernichten vermag. Noch während die Physiker jenseits der öffentlichen Wahrnehmung um die befremdlichen und grotesken Eigenschaften der Mikrowelt stritten, trat die Quantenphysik zum ersten Mal auf die Bühne der Weltöffentlichkeit, und dies mit einem sehr realen und lauten Knall.
Wie entstand diese schreckliche Waffe? Seit dem Versuch Rutherfords von 1912 wusste man, dass der Atomkern aus elektrisch positiv geladenen Elementarteilchen (Protonen) besteht. Doch wie schon in der Schule unterrichtet wird, stoßen sich gleich geladene Teilchen ab. Wie ist es dann möglich, dass Atomkerne stabil sind? Die vielen Protonen im Atomkern müssten doch auseinanderfliegen! Eine weitere Kraft im Atomkern musste auf den sehr kurzen Distanzen im Atomkern weit stärker (anziehend) wirken als die elektrische Kraft. Doch was das für eine Kraft sein sollte, davon hatten die Physiker keine Ahnung. Ein weiteres Quantenrätsel!
Im Jahr 1938 führten die deutschen Forscher Otto Hahn und Lise Meitner Experimente mit Urankernen durch, um die unbekannte Kraft im Atomkern genauer zu untersuchen. Sie beschossen Uran mit seinen 92 Protonen und – je nach Isotop – 143 oder 146 Neutronen, die »Munition« waren verlangsamte Neutronen. Es stellte sich heraus, dass durch den Beschuss zwei ganz andere Elemente entstanden waren: Barium und Krypton. Bariumatome, die sich schnell radiochemisch nachweisen ließen, besitzen eine Kernladungszahl von 56 und sind damit weniger als halb so groß wie Urankerne. Wie war das möglich? Mithilfe theoretischer quantenphysikalischer Berechnungen kam Meitner zu dem Ergebnis, dass der Urankern durch das Neutronenbombardement zum Platzen gebracht worden war. Dabei nehmen die Bruchstücke sehr viel Energie auf, weit mehr, als in jedem bis dahin bekannten Atomprozess entstanden war. Doch woher kam diese Energie? Dies war ein weiteres Rätsel. Meitner berechnete auch, dass die beiden Kerne, die aus der Spaltung hervorgingen (plus drei Neutronen, die frei werden), in ihrer Summe geringfügig leichter waren als der ursprüngliche Atomkern des Urans plus das Neutron, das die Spaltung auslöste. Was war mit der fehlenden Masse geschehen?
An dieser Stelle kam Einsteins berühmte Formel E = mc2, die dieser mehr als 30 Jahre zuvor aufgestellt hatte, ins Spiel: Denn die Differenz der Massen vor und nach der Spaltung entsprach genau der Energie, die die Bruchstücke aufgenommen hatten. Damit war zum ersten Mal ein Prozess bekannt geworden, in welchem sich die von Einstein formulierte Äquivalenz von Energie und Masse direkt offenbarte. Zugleich war damit aber auch klar geworden: Im Inneren des Atoms schlummern unvorstellbare Energien!
Viel Energie auf engem Raum – das weckte in den herrschenden Kriegszeiten schnell das Interesse der Militärs. Unter höchster Geheimhaltung (nicht einmal der Vizepräsident wurde eingeweiht) stellte die amerikanische Regierung ab 1941 ein Team von hochrangigen Wissenschaftlern und Technikern zusammen. Das Ziel des »Manhattan Projekts«, des bis dahin komplexesten und schwierigsten Technikprojekts der Geschichte: der Bau einer Atombombe. Die Wissenschaftler waren erfolgreich. Am 16. Juli 1945 explodierte auf einem Testgelände in der Wüste von Neu Mexico die erste Atombombe der Weltgeschichte. Ihre Wucht übertraf noch die optimistischen Erwartungen der Physiker. Doch als sich der mächtige Atompilz am Horizont abzeichnete, überkam sie ein Gefühl tiefsten Unbehagens. Wie der Leiter des Manhattan Projekts, Robert Oppenheimer, später berichtete, zitierte er in diesem Moment innerlich aus der »Bhagavad Gita«, einer zentralen Schrift des Hinduismus: »Jetzt bin ich der Tod geworden, Zerstörer der Welten.« Einer seiner Kollegen, der Direktor des Tests, Kenneth Bainbridge, drückte es plastischer aus: »Jetzt sind wir alle Hurensöhne.« Ihre Ernüchterung war begründet: Schon drei Wochen später zeichnete sich der zweite Atompilz ab, dieses Mal über dem Himmel des Kriegsgegners Japan. Und nur zwei Tage später folgte der dritte. Von der wissenschaftlichen Entdeckung der Spaltbarkeit des Uran-Atomkerns bis zu den Atompilzen von Hiroshima und Nagasaki waren kaum sieben Jahre vergangen.
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