Leseprobe »Energie«: Die Zukunft der Energieversorgung
8.2 Energieszenarien
Szenarien sind Modellrechnungen unter bestimmten Randbedingungen. Während Prognosen die wahrscheinliche Zukunft zum Gegenstand haben, geben Szenarien mögliche zukünftige Entwicklungen wieder. Oft zeigen Energieszenarien die Auswirkungen von Handlungsalternativen auf die Energieversorgung auf: was passiert z. B., wenn Deutschland gleichzeitig aus der Kernenergie und der Braunkohleverstromung aussteigt? Aus ihnen lassen sich aber auch Handlungsnotwendigkeiten und Gestaltungsspielräume ableiten: welche Aufteilung zwischen Wind und Photovoltaik führt zur größten Versorgungssicherheit oder zu den geringsten Energiepreisen?
Die den Energieszenarien zugrunde liegenden Modelle basieren auf einer Reihe von Annahmen. Dies betrifft zum Beispiel die Wirtschafts- und Bevölkerungsentwicklung, das Konsumverhalten, die technische Entwicklung von Energiewandlern oder die Preisentwicklung von Rohstoffen. In Tab. 8.2 sind einige solche Annahmen aus einem Szenario beispielhaft aufgeführt. Zusätzlich sind Randbedingungen festzulegen. Diese können politischer Natur sein, wie der Ausstieg aus der Kernenergie oder die gezielte Förderung bestimmter Energieträger. Die Randbedingungen können aber auch als Zielvorgaben formuliert sein, wie beispielsweise die Reduktion des Kohlendioxid-Ausstoßes um 95 %. Häufig wird ein Referenzszenario parallel gerechnet, das als Randbedingung die Fortsetzung der bisherigen Energiepolitik enthält.
Tab. 8.2: Annahmen zur demografischen und ökonomischen Entwicklung des Leitszenarios [3]
2010 | 2020 | 2030 | 2050 | |
---|---|---|---|---|
Bevölkerung (Mio.) | 81,6 | 80,5 | 79,1 | 73,8 |
Erwerbstätige (Mio.) | 39,0 | 38,6 | 36,2 | 32,8 |
Private Haushalte (Mio.) | 39,9 | 40,7 | 41,0 | 40,0 |
Personen/Haushalt | 2,05 | 1,98 | 1,93 | 1,84 |
Wohnfläche/Kopf (m2) | 42,6 | 45,2 | 46,5 | 48,8 |
Gewerbefläche/Erwerbstätigem (m2) | 38,8 | 39,9 | 42,0 | 43,6 |
Personenverkehr/Kopf (Pkm) | 13.829 | 14.316 | 14.497 | 14.272 |
Güterverkehr/Kopf (tkm) | 7643 | 9631 | 11.223 | 12.361 |
Szenarienbasierte Studien zur Zukunft der Energieversorgung wurden in den vergangenen Jahren sowohl von internationalen Einrichtungen, staatlichen Stellen als auch Nichtregierungsorganisationen veröffentlicht. Im Folgenden werden stellvertretend für die Bandbreite der angelegten Randbedingungen einige Szenarien kurz skizziert. Alle Studien (oder zumindest eine Zusammenfassung) sind frei im Internet zugänglich, die Linkadressen sind im Literaturverzeichnis angegeben.
World Energy Outlook
Der World Energy Outlook ist eine jährlich von der Internationalen Energieagentur (IEA) herausgegebene Studie zur Zukunft der weltweiten Energieversorgung [4]. Sie enthält ein jährlich aktualisiertes Referenzszenario bis zum Jahr 2040, das von einem weiterhin überwiegend auf fossilen Energieträgern basierenden Energiesystem ausgeht. Die Ergebnisse dieses Szenarios sind einerseits eine dramatische Verstärkung des Klimawandels mit einem durchschnittlichen Temperaturanstieg von 6 Grad bis zum Ende des Jahrhunderts. Andererseits ist eine ungebremste Nachfrage nach fossilen Energieträgern nur durch massive Investitionen in Prospektion, Erschließung und Fördertechnik insbesondere hinsichtlich unkonventioneller Vorkommen wie Teersande und Schiefergas zu decken. Der World Energy Outlook 2018 wird ausführlich in Abschn. 8.5 vorgestellt.
Wege zur 100 % Erneuerbaren Stromversorgung
Im Jahr 2010 veröffentlichte der Sachverständigenrat für Umweltfragen – ein Expertengremium, das die Bundesregierung berät – das »Sondergutachten Wege zur 100 % Erneuerbaren Stromversorgung« [5]. Auf der Basis einer detaillierten Potenzialanalyse der regenerativen Energiequellen zur Stromerzeugung in Deutschland, Europa und Nordafrika wurden unterschiedliche Szenarien entwickelt, die strenge Anforderungen des Naturschutzes berücksichtigen. Die Szenarien unterscheiden sich in der Höhe der Elektrizitätsnachfrage für das Jahr 2050 (zwischen 500 und 700 TWh/a in Deutschland) sowie dem Grad des Austauschs und der Vernetzung mit den Nachbarländern. Sie reicht von einer vollständigen Selbstversorgung Deutschlands ohne jeden Austausch bis zur Möglichkeit des Stromaustausches mit Europa und Nordafrika. Dabei wird ein maximaler Nettoimport von 15 % der nationalen Stromerzeugung angenommen.
Alle berechneten Szenarien kommen zu dem Ergebnis, dass bei einem ausreichenden Ausbau von Speicher- und Netzinfrastruktur im Jahr 2050 eine vollständig erneuerbare Stromversorgung mit den heute vorhandenen Technologien möglich ist. Der Windkraft – und hier insbesondere den offshore-Anlagen – kommt hinsichtlich einer Kostenoptimierung in allen Szenarien eine herausragende Bedeutung zu. Der Anteil der Biomasse an der Stromerzeugung wird wegen möglicher Landnutzungskonflikte nicht über 7 % steigen.
Leitstudien
Im Auftrag des Bundesumweltministeriums wurde Anfang der 2000er Jahre unter Federführung des DLR-Instituts für Technische Thermodynamik ein »Leitszenario« erarbeitet, welches aufzeigt, wie Deutschland seine Treibhausgasemissionen bis 2050 auf rund 20 % des Werts von 1990 senken kann [3]. Gleichzeitig wurden in diesem Szenario die Nachhaltigkeitsziele der Bundesregierung abgebildet und der dadurch erforderliche Strukturwandel der Energieversorgung dargestellt. Der Ausstieg aus der Kernenergie ist Bestandteil des Szenarios.
Wesentliche Gestaltungselemente des 2007 veröffentlichten und mehrfach aktualisierten Leitszenarios sind der substanzielle Ausbau der regenerativen Energien, eine erhöhte Effizienz in der Energienutzung im Strom-, Wärme- und Mobilitätsbereich sowie eine verbesserte Umwandlungseffizienz durch einen verstärkten Ausbau der Kraft-Wärme-Kopplung.
Das Leitszenario zeigt, dass es durch einen Umbau des Energiesystems grundsätzlich möglich ist, die Klimaschutzziele zu erreichen. Dazu ist es insbesondere notwendig, frühzeitig eine Effizienzstrategie zu entwickeln, die das Ansteigen des Energiebedarfs wirkungsvoll dämpft. Insbesondere der Wärmesektor muss bis 2050 einen gravierenden Strukturwandel durchlaufen.
Der Grundgedanke eines Leitszenarios, das die energiepolitischen Zielsetzungen Deutschlands sowie seine internationalen Verpflichtungen abbildet, wurde 2018 von der Deutschen Energie-Agentur (dena) wieder aufgegriffen [6]. Die daraus entstandene Leitstudie 2050 wird ausführlich in Abschn. 8.4 dargestellt.
Energiesystem Deutschland
Im Jahr 2013 stellte das Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme eine Studie zur Struktur der deutschen Energieversorgung im Jahr 2050 vor [1]. Ziel war es, die Konsequenzen einer langfristigen Reduktion der energiebedingten Treibhausgasemissionen um mindestens 80 % im Vergleich zu 1990 sowie des Ausstiegs aus der Kernenergie auf das Energiesystem zu untersuchen.
Die Studie weist einige methodische Unterschiede zu den beiden vorgenannten Szenarien auf: Die Berechnungen beziehen sich nicht auf einen bilanziell zu deckenden Jahresenergiebedarf – und damit das Vorhandensein einer hinreichend großen Speicherinfrastruktur – sondern auf realistische Erzeuger- und Verbraucherjahreslastgänge auf Stundenbasis. Sowohl der Anteil der einzelnen Erzeugungsoptionen als auch der Umfang der Sektorenkopplung zwischen Strom und Wärme sind variabel und werden hinsichtlich der volkswirtschaftlichen Erzeugungs- und Speicherkosten optimiert. Ferner wird kein Energieaustausch über die Landesgrenzen berücksichtigt.
Insgesamt zeigt die Studie D eine technisch plausible energetische Zukunft auf, die die Einhaltung der Klimaschutzziele unter der Maxime des volkswirtschaftlichen Kostenoptimums erlaubt. Dazu ist allerdings ein strategischer Einsatz des verbleibenden Anteils fossiler Energieträger sowie der Biomasse notwendig. Bei einer Reduktion der energiebedingten Treibhausgasemissionen um 81 % kann auf großtechnische saisonale Speichertechnologien weitgehend verzichtet werden.
8.3 Sektorkopplung
Elektrizitätserzeugung, Industrie, Verkehr und Gebäudeenergiesektor wurden in der Vergangenheit überwiegend getrennt voneinander betrachtet. Mit Ausnahme der Kraft-Wärme-Kopplung griffen alle Sektoren auf für ihre Zwecke aufbereitete Endenergieträger überwiegend auf fossiler Basis zurück: die Energiewirtschaft auf Braun- und Steinkohle, die Industrie auf Steinkohle und – ebenso wie der Verkehrssektor – auf Raffinerieprodukte sowie der Gebäudesektor auf Erdgas und Heizöl. Das Ende des fossilen Zeitalters bewirkt nun eine stärkere Vernetzung des Stromsektors mit den anderen Sektoren des Energiesystems, die als »Sektorkopplung« bezeichnet wird.
Prinzipiell lassen sich zwei Strategien innerhalb der Sektorkopplung unterscheiden: die Substitution fossiler durch synthetische Energieträger und die Elektrifizierung. In ersterem Fall werden durch den Einsatz elektrischer Energie chemische Sekundärenergieträger wie Wasserstoff, Methan oder Methanol produziert. Häufig können dadurch bestehende Aggregate wie Verbrennungsmotoren oder Verteilsysteme wie das Gasleitungsnetz weiter betrieben werden. Im Fall der Elektrifizierung sind Aggregate und Infrastruktur oft neu zu errichten, wie z. B. im Fall der Elektromobilität. In Tab. 8.3 sind verschiedene technische Umsetzungen der Sektorkopplung in den Sektoren Industrie, Verkehr und Gebäude dargestellt.
Tab. 8.3: Beispiele für die technische Umsetzung der Sektorkopplung
Substitutionsstrategie | Elektrifizierungsstrategie | |
---|---|---|
Verkehrssektor PKW | Brennstoffzellenbasierte Elektromobilität | Batteriebasierte Elektromobilität |
Verkehrssektor LKW | Verbrenner mit synth. Kraftstoff | Oberleitungs-LKW |
Wärmeversorgung Gebäude | Multivalent gespeiste Nahwärmenetze | Dezentrale Luft-Wasser-Wärmepumpen |
Wärmeversorgung Trinkwasser | Solarthermie | Durchlauferhitzer/PV direkt |
Industrie Wasserstoffbedarf | Elektrolyse | Elektrolyse |
Industrie Eisen und Stahl | Wasserstoffbasierte Direktreduktion | Elektrolichtbogenöfen |
Häufig weisen Prozessketten, die auf eine Elektrifizierungsstrategie setzen, höhere Wirkungsgrade bei gleichzeitig höheren Kosten für Aggregate und Infrastruktur auf. In jedem Anwendungsfall muss daher eine Analyse der volkswirtschaftlichen Gesamtkosten sowie der Auswirkungen auf andere Sektoren des Energiesystems erfolgen. Dafür stellt die Leitstudie 2050 [6], die im folgenden Abschnitt vorgestellt wird, eine gute Diskussionsgrundlage dar.
Literatur
- Fraunhofer ISE (Hrsg.): Energiesystem Deutschland 2050. Freiburg i. Br. (2013)
- Fritsche, U.R.: Stoffstromanalyse zur nachhaltigen energetischen Nutzung von Biomasse. Freiburg i. Br. (2004)
- Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (Hrsg.): Leitstudie 2008. Weiterentwicklung der “Ausbaustrategie Erneuerbare Energien” vor dem Hintergrund der aktuellen Klimaschutzziele Deutschlands und Europas. Berlin (2008)
- IEA (Hrsg.): World Energy Outlook. Paris 2018
- Sachverständigenrat für Umweltfragen (Hrsg.): Wege zur 100 % Erneuerbaren Stromversorgung. Berlin (2010)
- dena (Hrsg.): dena-Leitstudie Integrierte Energiewende. Berlin (2018)
- BCG, Prognos (Hrsg.): Klimapfade für Deutschland. München (2018)
- IEA (Hrsg.): Key World Energy Statistics 2018. Paris (2018)
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