Leseprobe »Das Buch, das jeder Mann lesen sollte«: Wer wir sind
Wer wir sind
Zunächst einmal: Wer ist dieses »wir«, das mit dir spricht? Wir sind eine Gruppe von sieben Personen – Redner:innen, Forscher:innen, Aktivist:innen, Studierende, Mentor:innen, Autor:innen, Berater:innen und/oder Moderator:innen –, und unsere Wurzeln sind in Deutschland, England, Finnland, Schottland und den USA.
Dieses Buch wurde von uns sieben zwischen Januar 2020 und dem Frühjahr 2022 als gemeinsames Projekt geschrieben. Der Text, den du in Händen hältst, baut auf einer ersten Diskussion auf, die wir in einer größeren Gruppe während eines von der Friedrich-Ebert-Stiftung veranstalteten und unterstützten Wochenend-Workshops in Berlin über Männer und Feminismus geführt haben.
Als Coautor:innen dieses Projekts bringen wir eine Reihe von Perspektiven mit ein. Einige von uns beschäftigen sich beruflich mit Fragen zu Sexismus und Geschlechtergleichstellung, andere interessieren sich eher persönlich und politisch für das Thema. Einige von uns sind in der Stadt aufgewachsen, andere auf dem Land. Einige von uns kommen aus der Arbeiterklasse, andere eher aus der Mittelschicht. Einige von uns bewegen sich in akademischen Kreisen, andere in einem eher praktischen oder unternehmerischen Umfeld. Wir sind zwischen Anfang 20 und Mitte 30 Jahre alt, junge Eltern, alleinstehend, verheiratet, homosexuell, bisexuell, heterosexuell … und wir sind uns einig, dass solche Bezeichnungen die wahre, bunte Vielfalt des Lebens kaum widerspiegeln. In diesem Sinne möchten wir gleich zu Beginn unserer gemeinsamen Reise betonen, dass unsere Perspektiven in erster Linie genau das sind: Perspektiven. Wir erheben nicht den Anspruch, alle Antworten auf die in diesem Text aufgeworfenen Fragen zu kennen, und wir glauben auch nicht, dass dieser Text in irgendeiner Weise erschöpfend ist. Als eine Gruppe weißer Cisgender-Frauen und -Männer, die keine Behinderung haben und in Europa und Nordamerika leben, sind unsere persönlichen Erfahrungen mit sich überschneidenden Identitäten und Diskriminierung letztlich begrenzt. Deshalb haben wir uns bemüht, sicherzustellen, dass die Hinweise und Ressourcen, die wir dir auf diesen Seiten bieten, auf Erfahrungen und Erkenntnissen beruhen, die wesentlich vielfältiger als unsere eigenen sind.
Stattdessen möchten wir dieses Buch als einen Ausgangspunkt betrachten, der all jenen die Tür öffnet, die mehr über ihre Rolle in einer gerechten und mitfühlenden Welt wissen möchten. Wir hoffen auch, dass unser Text zu interessanten, zum Nachdenken anregenden und produktiven Gesprächen führt! Wir würden uns freuen, wenn wir gemeinsam die Reise des Zuhörens, Lernens und Nachdenkens fortsetzen und zu proaktiveren Akteur:innen des Wandels werden könnten.
Unsere Geschichten
Um uns dem Thema Feminismus aus einer persönlichen Perspektive anzunähern, möchten wir dir unsere eigenen Geschichten erzählen; wie wir uns im Laufe unseres bisherigen Lebens mit Geschlechterungleichheit und dem Patriarchat auseinandergesetzt haben und selbst zu Feminist:innen wurden. Einige von uns haben den Feminismus in ihren frühen Teenagerjahren entdeckt, andere erst kürzlich; manche durch Zufall, andere ganz bewusst; für einige geht es darum, wie wir uns zu Hause verhalten, für andere geht es um politische Bewegungen. Die Themen, die wir in unseren Geschichten anschneiden, werden alle – mehr oder weniger – im Laufe des Gesamttextes zur Sprache kommen, daher können sie als eine Art (inoffizielle) Einführung in den Feminismus gelesen werden, die auf unseren Erfahrungen basiert.
MARTIN (er/ihn/ihm): Die Themen Geschlechtergerechtigkeit und Feminismus betraten relativ spät die Bühne meines Lebens. Es war in meinen späten Zwanzigern. Mir ging es so wie sicherlich vielen Männern: Auch wenn ich über die Familie, Medien und Freundinnen hier und da Bezugspunkte zu diesen Fragen hatte, so verstand ich lange nicht, was meine Rolle darin ist – sowohl mit Blick auf mein persönliches Verhalten als auch auf die größeren strukturellen Zusammenhänge. Ich dachte lange, Feminismus sei reine Frauensache und gehe mich nichts an.
Ich bin im ländlichen Raum in Bayern aufgewachsen, in einem Umfeld, in dem Rollen immer noch relativ klassisch zwischen den Geschlechtern verteilt waren oder kulturell erwartet wurden. Als Kind, Jugendlicher und später junger Mann kopierte und adaptierte ich vielfach unbewusst diese Muster. Sie machten mich zu einem, wie ich heute sagen würde, »unbewussten Sexisten«. In meiner Rollenerwartung musste ein Mann stark sein, durfte Schwächen nicht zu offen zeigen und musste sich von allem abgrenzen, was zu weiblich wirkte. Ich ging in den Schützenverein, machte sexistische Witze und nahm nur halb ernst, was Frauen sagten. Dazu kam, dass ich früh spürte, dass ich mich eher von Männern als von Frauen angezogen fühlte. Das verstärkte meine sexistischen Verhaltens- und Denkmuster eher noch, denn wie sicherlich alle Männer wissen, ist es mit das Schlimmste, auf dem Schulhof als »schwul« bezeichnet zu werden. Über die Jahre hinweg merkte ich, wie destruktiv und sogar toxisch mein Verhalten war. Es tat mir gesundheitlich wie auch psychisch nicht gut, ebenso wenig wie den Frauen in meiner Umgebung. Erst als ich mich dafür öffnete, mit Freundinnen und Freunden, mit der Familie und meinem Umfeld offen über Rollenbilder, Erwartungen, Geschlechtergerechtigkeit zu sprechen, konnte ich mich selbst besser kennenlernen – und mich damit schrittweise auch von meinem verinnerlichten Sexismus distanzieren.
Ein Weg, der bis heute andauert und heilsam ist. Wir alle sollten die Chance haben, unabhängig von unserem Geschlecht oder unserer Orientierung zu sein, wer wir sind, gleiche Rechte und Möglichkeiten haben. Unsere starren Rollenbilder und Strukturen, unsere Angst steht uns dabei oft im Weg. Wir müssen und können sie überwinden. Eine feministische Zukunft ermöglicht uns genau das.
AILEEN (sie/ihr): Als Teenager habe ich gern gelesen. Ich verschlang die Bücher und Geschichten, die unsere Lehrerinnen und Lehrer uns gaben – Helden, Legenden, Abenteuer –, das war meine Art, etwas über meine Umwelt und das Leben zu lernen. Ich erfuhr von den Jakobiten: wie die Männer sich versammelten, um über Politik zu reden, die Soldaten der britischen Regierung zu bekämpfen und zu sterben. Ich lernte, wie fischreich die schottischen Meere sind, wie stark der Wellengang ist und wie die Männer mit ihren Booten hinausfahren, um den Fang einzuholen. Ich lernte, wie man sich von der Kunst inspirieren lassen kann: wie Männer in Glasgow und Edinburgh, Paris und New York seit Jahrhunderten großartige Werke schaffen und uns alle lehren, wie man malt.
Doch je mehr ich las und je mehr ich lernte, desto mehr fiel mir auf, dass etwas – oder besser: jemand – fehlte: Frauen. Nachdem ich gemerkt hatte, dass sie nicht vorhanden waren, veränderte sich mein Leben von Grund auf. Ich begann, mir gewisse Fragen zu stellen. Gab es keine weiblichen Jakobiten? Was haben die Frauen gemacht, während die Männer draußen auf dem Meer waren? Gab es keine weiblichen Künstlerinnen? Meine Lehrerinnen und Lehrer gaben mir keine zufriedenstellenden Antworten, und ich bin mir ehrlich gesagt nicht sicher, ob ich damals die richtigen Worte gefunden habe, um die richtigen Fragen zu stellen. Dennoch lagen diese Gedanken meinem feministischen Erwachen zugrunde. Für mich persönlich geht es im Feminismus inzwischen um drei Dinge.
Fragen und Antworten: Ich habe Jahre gebraucht, um passende Antworten auf die Fragen zu finden, die ich als Jugendliche stellte, und in der Zwischenzeit sind mir unzählige weitere eingefallen. Was ist gerecht, wer wird ausgeschlossen, wie kann unser Leben inklusiver werden? Der Feminismus hilft mir dabei, Antworten zu finden.
Materieller sozialer Wandel zum Besseren: In meiner idealen feministischen Welt haben wir alle ein sicheres Zuhause, gesundes Essen, glückliche Beziehungen und ein erfüllendes Alltagsleben. Meine feministische Politik hilft mir, meinen Platz bei der Schaffung dieser Realitäten zu finden.
Solidarität: Der Feminismus hat mich gelehrt, dass gegenseitige Hilfe und der Einsatz füreinander die mächtigsten Werkzeuge sind, die wir Menschen besitzen.
AMY (sie/ihr): Schon auf dem College habe ich mich als überzeugte Feministin betrachtet. In einem Soziologiekurs erklärte mir ein Professor, dass Feminismus im Wesentlichen bedeute, an die Gleichheit der Geschlechter zu glauben. Auch wenn das vielleicht nach einer zu starken Vereinfachung klingt, wurde der Feminismus – den ich früher für einen eher linken Begriff hielt – für mich zugänglicher, denn ich glaube in der Tat, dass die Geschlechter gleichberechtigt sein sollten. Mein eigener Feminismus wurde jedoch erst in Kombination mit etwas anderem wirklich lebendig – dem Gedanken des »peacebuilding«, also der Friedenskonsolidierung.
Als ich das erste Mal auf dieses Konzept stieß (2011 in einer Ausgabe des Christian Science Monitor), war ich beeindruckt von der Idee, dass Frieden im Grunde genommen geschaffen werden kann, dass man aktiv darauf hinarbeiten kann und er nicht nur eine Wunschvorstellung bleiben muss. Als ich den Gedanken weiterverfolgte, entdeckte ich mehr darüber, wie Friedenslösungen (d. h. Friedensabkommen) zustande kommen, und ich war fassungslos, dass Frauen – historisch gesehen und in modernen Konfliktkontexten – in den meisten Fällen aus den Verhandlungsräumen ausgeschlossen werden und dass Frauengruppen, die sich für den Frieden einsetzen, ausgegrenzt werden oder sich den Zugang erzwingen müssen. Wie können Friedensergebnisse Bestand haben, wenn die Hälfte der Bevölkerung von vornherein nicht mit einbezogen wird?
Mein Feminismus ist aus einer pragmatischen Berufung heraus entstanden, die ich seit zehn Jahren verfolge, um genau darauf hinzuarbeiten: dass Frauen einbezogen werden, damit der Frieden Bestand hat. Denn wenn wir in einer friedlicheren Welt leben wollen, dürfen wir die Frauen nicht ausgrenzen.
MIRIAM (sie/ihr): Ich würde sagen, dass ich bis Anfang 20 politisch eher uninteressiert war. In den Medien nur weiße männliche Politiker zu sehen hat mich abgeschreckt – und mir das Gefühl gegeben, dass politische Themen nichts mit mir als junge Frau zu tun hatten. Dann besuchte ich an einem regnerischen Tag im November 2018 die Ausstellung »200 Frauen«. Inspiriert von dem Zitat von Gloria Steinem »Man kann Frauen nicht stärken, ohne sich ihre Geschichten anzuhören«, wurden ganz unterschiedliche Frauen porträtiert. Ihre persönlichen Geschichten zu lesen hat mich tief berührt und zum Nachdenken gebracht: Warum werden ihre Stimmen in der Öffentlichkeit nur selten gehört? Ich hatte plötzlich das Gefühl, dass die Stimmen der Frauen überall fehlten, nicht nur im politischen Kontext, sondern auch in der Art und Weise, wie ihre Lebensgeschichten erzählt wurden. In mir wuchs der Wunsch, weibliche Vorbilder zu haben, zu denen wir aufschauen können.
Aber es war nicht nur die fehlende Repräsentation, die für mich plötzlich deutlich wurde, sondern mehr noch das fehlende Zuhören. Jede Frau hat eine Geschichte, die es wert ist, erzählt zu werden, aber es wird ihr einfach kein Rahmen geboten, und es wird ihr nicht aktiv zugehört. Zu Beginn meiner Ausbildung als Designerin und User Researcherin wollte ich lernen, wie man bei Interviews mehr in die Tiefe gehen kann. Ohne groß darüber nachzudenken, sprang ich ins kalte Wasser und fragte Politikerinnen und Aktivistinnen, ob sie bereit wären, sich mit mir zu einem Interview zu treffen. Zu meiner Überraschung antworteten alle auf eine sehr zugängliche, persönliche Art und Weise. Voller Aufregung machte ich mich am nächsten Tag sofort auf den Weg, um ein Mikrofon zu kaufen. Auf diese Weise wurde nicht nur die Basis für meinen Podcast 100 Frauen* geschaffen, sondern ich bin dadurch auch zur Feministin geworden. Für mich bedeutet Feminismus genau das: Frauen sichtbar zu machen, ihre Geschichten mitzuteilen und ihren unterschiedlichen Stimmen Gehör zu verschaffen, ob in einer privaten Runde, an einem Sitzungstisch oder auf einer politischen Bühne.
ROBERT (er/ihn/ihm): Als ich nach dem langen Studium, in dem es immer nur um einzureichende Matheaufgaben und die Prüfungen am Anfang und Ende des Semesters ging, zu mir kam, wurde mir bewusst, was in der Welt vor sich ging. Es war die Zeit, als Donald Trump zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt wurde. Nicht nur damit, sondern auch mit vielen anderen Dingen war ich nicht einverstanden. Ich wurde politisch aktiv, nicht zuletzt aus meiner persönlichen Erfahrung heraus, privilegiert zu sein. Daher rührt meine Motivation, mich politisch zu engagieren, in der Überzeugung, dass jedes Kind, egal wo es geboren wurde und unter welchen Bedingungen es aufwächst, die gleichen Chancen haben sollte, die eigenen Träume zu verwirklichen.
Es ist nicht schwer, zu erkennen, dass es schon bei Kindern einen Unterschied zwischen Mädchen und Jungen gibt. Kinder werden oft je nach Geschlecht unterschiedlich erzogen, und allzu oft werden klassische »Vorurteile« verbreitet, zum Beispiel, dass Mädchen schlecht in Mathe wären. Das zieht sich durch das ganze Leben und alle Bereiche. Eine Konsequenz: Frauen verdienen weniger als Männer und sind deshalb häufiger von Altersarmut bedroht. Unsere Strukturen unterstützen eine ungleiche Gesellschaft – das Patriarchat. Wir brauchen politische Maßnahmen.
Als ich anfing, mich mit diesen Themen zu beschäftigen, war ich frustriert und entsetzt, weil diese Perspektive für mich so neu und unerwartet war. Ich brauchte auch einige Zeit, um zu erkennen, dass ich selbst ein Teil des Problems war und manchmal leider immer noch bin. Ich habe mit vier Jahren angefangen, Fußball zu spielen. Seitdem habe ich bis zu viermal pro Woche hart trainiert und war dabei die ganze Zeit nur von Männern umgeben. Man kann sich vorstellen, dass ich alle möglichen Phasen der Unsicherheit in Bezug auf meine eigene Männlichkeit durchlaufen habe und durch die besondere Gruppendynamik junger unsicherer Männer sozialisiert wurde. Heute – ich spiele immer noch Fußball – denke ich folgendermaßen über eine Fußballmannschaft:
Ein erfolgreiches Team braucht keine protzigen Typen, sondern ehrliche Kerle. Ein gesundes Team bietet einen Raum dafür, Gefühle und Verletzlichkeit offen zu zeigen. Witze, Scherze und Konflikte sind normal, aber sie brauchen Grenzen, die ein Team nur für sich selbst setzen kann.
In einer Mannschaft kommt es oft darauf an, dass diejenigen in der zweiten oder dritten Reihe bereitstehen, motivieren und den Ball annehmen, wenn er ihnen zugespielt wird. Sie werden ständig gebraucht. Dieses Engagement der weniger Talentierten zu schätzen ist genau das, was ein Team besonders stark macht. Denn am Ende kommt es nicht darauf an, wer der »Stärkste« in der Mannschaft ist, sondern darauf, als Team stärker zu sein als die anderen Teams.
Für mich bedeutet Feminismus heute zunächst einmal, an meinem eigenen Verhalten und meinen Mustern zu arbeiten und andere Männer zu motivieren, das Gleiche zu tun und im Sinne dieses Buches Feminist:innen zu unterstützen. Das ist nicht immer einfach, und vor allem die eigenen Fehler tun manchmal weh, aber wenn man lernt, sein eigenes Verhalten zu reflektieren und es zu ändern, führt das dazu, dass man ausgeglichener und glücklicher wird. Und dadurch trage ich dazu bei, in der Welt zu leben, die ich mir für unsere Kinder wünsche.
Leider endet die Leseprobe an dieser Stelle. »Das Buch das jeder Mann lesen sollte« bietet den Rest des Kapitels und mehr.
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