Leseprobe »Das lebendige Universum«: Sex: Eine neue Art, sich zu vermehren
7.3 Warum sollte man also Sex haben?
Sex entwickelte sich sehr früh in der Geschichte der Eukaryoten, möglicherweise gleichzeitig mit den Eukaryoten selbst. Sex entwickelte sich nur einmal, aber es wird unter Evolutionsbiologen immer noch darüber diskutiert, warum sich Eukaryoten mit Sex herumschlagen, denn Sex birgt eine erhebliche Gefahr. Eine andere Zelle muss gefunden werden, mit der man verschmelzen kann, und um all seine Gene mit dieser Zelle teilen. Was ist, wenn sie Parasiten beherbergt? Und am Ende bekommt man Tochterzellen, die nur die Hälfte der eigenen Zellen besitzen. Hätte man sich einfach zweigeteilt, hätten die Tochterzellen alle Gene – ginge es nur um die Gene, wäre das ganz bestimmt besser. Es gibt eine Reihe von Argumenten, welche Vorteile der Sex hat, aber die Wissenschaftler sind sich noch nicht einig, welche richtig sind.
7.3.1 Der Turbo für die Evolution
Stellen Sie sich vor, sie haben nur einen Elternteil, dieser Elternteil hat auch nur einen Elternteil und so weiter bis zurück in die Zeiten der Dinosaurier. Dies ist eine Vermehrung durch Klonen. Gäbe es keine Mutationen, wäre man ein identisches Abbild seines Elternteils, und das gliche seinem Elternteil usw. Wenn sich die Umwelt verändert, muss eine Art seine Gene verändern, um sich daran anzupassen. Das könnte geschehen, indem sich geeignete Mutationen häufen, doch wäre das ein sehr langsamer Vorgang. Außerdem sind die meisten Mutationen eher schlecht für den betroffenen Organismus, weshalb es eine Balance zwischen gewollten Mutationen und deren Vermeidung gibt.
Mikrobielle Lebensformen haben eine Möglichkeit entwickelt, dies zu umgehen, indem sie DNA austauschen. Wenn ein Bakterium zum Beispiel einen Satz von Genen besitzt, der es resistent gegen Antibiotika macht, und ein anderes einen Satz von Genen, der es für unser Immunsystem unsichtbar macht, dann wäre ein neues Bakterium, das entsteht, indem beide diese Gene ausgetauscht haben, der perfekte Superbazillus, der seine neue Umgebung – Menschen – kolonisieren könnte. Bakterien können das auf vielerlei Arten und unabhängig davon, wie groß ihre DNA ist. Das Genom von Bakterien ist ein Flickenteppich von Segmenten, die während ihrer evolutionären Vergangenheit von anderen Organismen auf sie übertragen worden sind. Dabei handelt es sich um horizontalen Gentransfer (Box 4.4). Doch dieser ist unstrukturiert und riskant, außerdem profitiert nur der Empfänger der DNA.
Früher argumentierte man, dass Sex ein besserer Mechanismus für diesen Genaustausch sei, denn er erlaubt komplexen Organismen eine schnellere Anpassung an neue Umweltbedingungen. Er ermöglicht es der Lebensform, die besten Mutationen in einer Zelle zu sammeln, indem die Chromosomen umgeordnet und genetisches Material ausgetauscht werden. Außerdem können zwei Kopien eines Gens in einer Zelle existieren. Eine davon kann verändert werden, ohne dass die Zelle die genetische Funktion verliert, während die andere Kopie da ist, um die Aufgabe zu übernehmen. Dies könnte der erste Schritt bei der Genverdoppelung sein, die wir in Kap. 5 erwähnt haben. Doch in letzter Zeit wurden diese Ansichten revidiert. Nun erkennt man den Sex als eine Möglichkeit an, die der haploiden Zelle in guten Zeiten eine höhere Flexibilität bietet. In schlechten Zeiten, gibt es dagegen in der diploiden Zelle die DNA-Sicherung durch die beiden Kopien jedes Chromosoms, zum Beispiel, wenn die Zelle von der Sonne ausgetrocknet wird oder starker UV-Bestrahlung ausgesetzt ist.
Eine weitere Hypothese ist, dass Sex die genetischen Veränderungen ermöglicht, die man für die Gene des sich nur langsam verändernden Zellkerns braucht, damit diese mit den schneller mutierenden Genen in den Mitochondrien mithalten können. Sex erzeugt auch neue Genkombinationen, die eine schnellere Anpassung an neue Umgebungen erlauben.
Es gibt zwei Probleme bei diesen Argumenten. Erstens ist nicht klar, ob die Vorteile bei der Anpassungsfähigkeit die Nachteile, die sich durch den Sex ergeben, ausgleichen. Zweitens, was schwerwiegender ist, handelt es sich um ein Langzeitargument, und die Evolution agiert nicht vorausschauend, sondern nur bei dieser Generation. Es gibt keine »führende Hand«, die die Zukunft plant. Doch das evolutionäre Argument bezieht sich auf die Zukunft, nicht auf das Heute.
7.3.2 Vermeidung von Mutationen
In dieselbe Richtung geht die Vorstellung, dass durch Sex Schäden aufgrund von Mutationen vermieden werden können, ohne Mutationen ganz auszuschließen. Man möchte ja nicht alle Mutationen vermeiden, denn das würde die Evolution vollständig stoppen, sodass die Art letztlich aussterben würde. (Außerdem ist es chemisch unmöglich, alle Mutationen zu verhindern, denn das DNA-Molekül in einer aktiven Zelle, in der viele chemische Reaktionen ablaufen, kann nicht gegen jede Beschädigung geschützt werden.) Doch die meisten Mutationen sind schädlich. Daher ist Sex eine Möglichkeit, die Kopie eines Chromosoms, auf der eine Mutation sein könnte, mit einer Kopie, auf der das nicht der Fall ist, zu mischen. Dieser Mischvorgang (die Rekombination) kann einige der Beschädigungen auf der DNA korrigieren, indem fehlende Genbestandteile ergänzt oder Gensegmente verschoben werden. Das Ergebnis ist ein Genom, auf dem Mutationen sowohl repariert als auch zwischen Individuen ausgetauscht werden.
Das Problem an dieser Erklärung ist wieder, dass Bakterien über denselben Enzymmechanismus verfügen, um Mutationen zu reparieren. Manche können das weit besser als Eukaryoten. Das Bakterium Deinococcus radiodurans kann Strahlendosen aushalten, die das Genom eines Eukaryoten vollständig zerstören würden, weil seine Reparaturmechanismen so viel effizienter sind (es ist so zäh, dass es den Spitznamen »Conan, das Bakterium« trägt). Sex ist also nicht die einzige Möglichkeit, Mutationen in den Griff zu bekommen.
7.3.3 Vermeidung von Parasitenbefall
Eine weitere Sichtweise ist, dass Sex nicht dazu da ist, Gutes zu entwickeln, sondern Schlechtes zu vermeiden. Die Überlegung ist folgende: Je größer und komplexer eine Lebensform ist, und je mehr Energie sie in ihre Gesundheit steckt, desto mehr ist sie das Ziel von Parasiten. Wenn sich ein Organismus als Klon vermehrt und seine Nachkommen genetisch identisch sind, dann kann jeder Parasit, der das Elternteil angreifen kann, auch die Nachkommen angreifen. Sobald sich ein Parasit entwickelt hat, der perfekt daran angepasst ist, das Elternteil anzugreifen, kann er die gesamte Familie, ja die ganze Art ausrotten. Wenn jedoch die Nachkommen ein wenig anders sind als die Eltern und die Geschwister, können Parasiten nur einige davon angreifen, und die Familie kann ihre Gene an die nächste Generation weitergeben. Ganze Genklassen widmen sich in Säugetieren der Aufgabe, unsere Zellen verschieden aussehen zu lassen. (Ein Nebeneffekt davon ist, dass man Blut oder Gewebe nicht einfach zwischen Menschen austauschen kann; es muss zusammenpassen.) Diese Gene werden bei der sexuellen Fortpflanzung ausgetauscht, sodass es für Parasiten – ob das nun Viren, Bakterien, Protozoen oder Insekten sind – schwieriger wird, uns anzugreifen. Diese ständige Neuvermischung dieser Gene macht uns also widerstandsfähiger gegen Parasiten. Das Problem bei diesem Argument ist wieder, dass auch Bakterien Mechanismen ohne Sex dafür entwickelt haben. Auch sie können Gene austauschen (wie oben beschrieben) und besitzen daneben innere Mechanismen, um sich gegen Viren zu schützen.
Das vor Kurzem entdeckte CRISPR-System ist ein weitverbreiteter Mechanismus, der Teile eines eindringenden Virus nimmt, ihn in die DNA des Bakteriums einbaut und dann diese neue genetische Information verwendet, um das Virus in Zukunft zu identifizieren und es zu zerstören, sobald es in die Bakterienzelle gelangt. Das funktioniert wie unser Immunsystem, wird außerdem aber noch von einem Bakterium auf das nächste vererbt. Es gibt weitere Mechanismen – der Malariaerreger (eine Eukaryote) kann seine Gene in sich selbst vermischen, um seine Oberflächenchemie zu verändern und so unser Immunsystem zu überlisten. Dazu benötigt er keinen Sex. Es haben sich also viele andere Möglichkeiten entwickelt, um Parasitenbefall zu verhindern. Warum also Sex?
Es gibt viele weitere Theorien, beispielsweise dass Sex dazu da ist, Mutationen zu beseitigen, die sich in Mitochondrien ansammeln (die DNA von Mitochondrien mutiert schneller als die DNA in unseren Zellkernen).
Sex könnte also manchmal nützlich sein, doch das Leben hat andere Strategien entwickelt, um all das zu tun, was Sex kann. Das Seltsame ist, dass fast alle Vielzeller sich sexuell vermehren. Pflanzen können über Stecklinge asexuell vermehrt werden, und manche breiten sich ohne sexuelle Reproduktion aus. Viele Gräser, Erdbeeren und Sumachgewächse breiten sich über Wurzeln oder Ausläufer aus, aus denen neue identische Pflanzen entstehen. Doch man kann beobachten, dass Pflanzen, die als Klone wachsen – also als Gruppe von Organismen, die genetisch identisch sind, weil sie sich ohne Sex vermehrt haben – letztlich aussterben. Manche Tiere, wie Blattläuse, können sich asexuell vermehren, doch sie machen das nur für eine begrenzte Zeit im Jahr und kommen im Herbst wieder darauf zurück, sich sexuell zu vermehren. Kürzlich hat man beobachtet, dass sich die Abgott- bzw. Königsschlange (Boa constrictor) ohne Männchen vermehren kann (diese eingeschlechtliche Reproduktion wird Parthenogenese genannt), obwohl der genetische Mechanismus dahinter vielleicht trotzdem die Zellmechanismen von Sex nutzen könnte (d. h. die Vermischung von Chromosomen), nur eben ausschließlich im Weibchen. Ob die Boas das über mehrere Generationen können ist nicht bekannt, doch aus den vorliegenden Fällen lässt sich schließen, dass sie darauf nur im Notfall, d. h., wenn es zu wenige Männchen gibt, zurückgreifen.
Es scheint also ein fast festgeschriebenes Gesetz, dass das komplexe Leben Sex benötigt und auf diesen nur im größten Notfall, und wenn dann nur für wenige Generationen verzichtet. Bedeutet das, dass sich der komplexe Apparat der Chromosomenpaarung, des Chromosomenaustauschs und der Chromosomentrennung erst entwickeln muss, bevor komplexe Organismen entstehen können? Falls ja, ist das dann ein Random-Walk-Ereignis?
Wir glauben, dass Sex nicht so einzigartig und einschränkend ist, und haben dafür drei Gründe, die wir im nächsten Abschnitt erläutern wollen.
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