Kulturlandschaft: Äcker, Wiesen, Wälder und ihre Produkte
11 Fazit – das gesellschaftliche Kernproblem
11.1 Rückblick auf die beiden technischen Kernprobleme der Landwirtschaft
Kehren wir nach dem Ausflug in den Wald zur Landwirtschaft zurück. Blicken wir noch einmal auf das, was in den Kapiteln 5 und 6 als die beiden »technischen Kernprobleme der heutigen Agrarlandschaften« bezeichnet wurde. Es handelt sich um die Austreibung der Artenvielfalt auf der einen Seite und die Desorganisation der Stoffkreisläufe, insbesondere des Stickstoffs, auf der anderen.
Beide Prozesse sind technisch beschrieben worden, jedoch verlangt die Beurteilung ihrer ökonomischen und politischen Triebkräfte einen zweiten Blick, den wir – unterbrochen durch die Kapitel 7 bis 10 – bewusst mit einem Abstand werfen. Diese Triebkräfte unterscheiden sich ebenso deutlich voneinander wie die erforderlichen Maßnahmen für Abhilfen sowie deren politische Konsequenzen und Kosten.
Triebkraft für den Biodiversitätsverlust war und ist an erster Stelle die Verbreitung moderner pflanzenbaulicher Produktionsmethoden. Vergrößerung der Felder, Regulierung der Wasserverhältnisse, Optimierung des Nährstoffangebotes, chemischer Pflanzenschutz und starke, schlagkräftige Technik – diese Ursachen sind wohlbekannt. Wo sie uneingeschränkt wirken, kann es keine Artenvielfalt geben.
Die Technisierung erklärt vieles, aber nicht alles. Sie erklärt nicht, warum die Artenvielfalt auf fast der gesamten landwirtschaftlich genutzten Fläche und damit auf der Hälfte der Landesfläche in Deutschland in so radikaler Weise reduziert worden ist. Es wäre technisch, gesellschaftlich und ökonomisch durchaus möglich gewesen, in hinreichendem Umfang artenreiche Biotope zu erhalten. Die zweite Ursache für den Biodiversitätsverlust besteht also darin, dass der landwirtschaftlich-technische Fortschritt die gesamte Landschaft hemmungslos »überleimt«, dass ihn keine Planung in hinreichendem Maße räumlich kanalisiert hat.
Die Landwirtschaft erhebt Ansprüche an die Flächennutzung nach ihren Vorstellungen, die in Frage gestellt werden müssen. Alles wird in weiten Kulturlandschaften dem Ziel maximaler Produktion untergeordnet. Das Gemeinwohl verlangt aber gar nicht, dass die Produktion fast überall heiß läuft. In diesem Buch wird nirgendwo gegen angemessen intensive konventionelle Landwirtschaft argumentiert, aber es geht nicht an, dass fast der letzte Winkel der Landschaft von ihr erfasst wird. Es sei noch einmal erlaubt, wie schon im Kapitel 5 schlicht zu formulieren: Die intensive moderne Landwirtschaft hat sich »zu breit gemacht.«
In den betreffenden Kapiteln (Abschnitt 4.6, Box und Abschnitt 5.4) dieses Buches ist ferner festgestellt worden, dass – um es einmal sehr milde auszudrücken – in großem Umfang Güter erzeugt werden, nach denen, wenn sie auch nicht komplett überflüssig genannt werden sollen, jedenfalls kein prioritärer Bedarf aus der Sicht des Gemeinwohls besteht. Dies betrifft den Agrarexport auf fast einer Million Hektar und die Energiepflanzen auf zwei Millionen Hektar. Die Umwidmung selbst nur eines Teils dieser drei Millionen Hektar in pflegende Nutzungen oder Strukturelemente würde die Qualität der Kulturlandschaft schon erheblich aufwerten.
Es muss ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass das Fehlen einer durchsetzungsfähigen räumlichen Planung bereits in den 1970er Jahren von führenden Experten angemahnt worden ist. Wolfgang Habers »Theorie differenzierter Landnutzung« (Haber 1972) drückte vor fast 50 Jahren die Inhalte des vorliegenden Abschnitts in anderen Worten, aber in sehr ähnlichem Sinn aus. Stete Erinnerungen und Neuformulierungen haben im politischen Prozess nicht gefruchtet. Dies, obwohl auf anderem Gebiet in Deutschland räumliche Planung durchaus funktioniert, wie beim Schutz des Waldes. Die intensive Landwirtschaft durfte die Landschaft für sich vollständig vereinnahmen. Wo sie es nicht tut, sind selten wirksame Sperrungen die Ursache, vielmehr hat sie an den betreffenden Biotopen kein Interesse.
Nicht nur hat die Politik die Warnungen Habers und anderer Experten überhört, sie hat ihnen sogar ausdrücklich zuwidergehandelt und tut es noch. Die Landschaftsplanung wurde machtlos gehalten, ihr wurde jede deutliche Wirkung in der Landschaft genommen. Mit viel öffentlichem Geld wurde auf dem Wege der Flurbereinigung fast überall die Produktionseignung der Landschaft auf Kosten der Natur perfektioniert – in der DDR mit der Komplexmelioration teilweise noch radikaler. Die volkswirtschaftlich fragwürdigsten Zweige der Agrarproduktion, die Energiepflanzen und der Export, werden allen Einwänden zum Trotz massiv gefördert. Anstatt die landwirtschaftliche Erzeugungswut behutsam und mit Rücksicht auf die Interessen der betroffenen Menschen zu mäßigen, wird sie angefacht.
Nun zum zweiten Problem, der Desorganisation der Stoffströme; beschränken wir uns zur Vermeidung umständlicher Sprache auf den Stickstoffstrom, auch wenn für Phosphor Ähnliches gilt. Auch hier ist räumliche Ordnung beziehungsweise deren Fehlen ein wesentlicher Faktor. Dies betrifft die wohlbekannte Massierung der Tierbestände in Nordwestdeutschland bei gleichzeitigem Desinteresse an der Viehhaltung in Ackerbauregionen mit entsprechendem Mangel an organischem Dünger.
Auch hier versagt räumliche Ordnung, insofern bestehen Parallelen zum ersten Problem. Jedoch gibt es Aspekte, die es von ihm unterscheiden und die es anders beurteilen lässt. Dies sind Aspekte nicht landschaftsplanerischer, sondern verfahrenstechnischer Art. Zwar ist zuzugestehen, dass die Beherrschung von Stoffströmen in der Landwirtschaft auf Schwierigkeiten stößt, die die Industrie weniger kennt. Ein Kohlekraftwerk besitzt mit seinem Schornstein eine einzige große Emissionsquelle, und geeignete Filteranlagen sind in der Lage, Schadstoffe auf kurzem Wege und sehr effizient abzuscheiden. In der Landwirtschaft quillt der Stickstoff sozusagen »aus allen Ritzen«; es gibt neben punktuellen Emissionsquellen flächige Quellen und in der Tat auch manche technisch unvermeidlichen Verluste. Dennoch bestehen Verfahrenstechniken für einen besseren Umgang mit Stickstoff, die nur jahrzehntelang unausgeschöpft blieben – wir haben dies in früheren Kapiteln eine »Schmuddelwirtschaft« genannt.
Die derzeitige Situation (2018) in der Landwirtschaft besitzt eine gewisse Ähnlichkeit mit der in Industrie und Siedlungswasserwirtschaft der 1960er Jahre in der DDR und der BRD. Schwer belastete Luft, sogar geruchsbeladen und gesundheitsschädlich, wurde damals ebenso wie Schaumkronen auf trüben Gewässern als unvermeidliche Nebenerscheinung des wirtschaftlichen Fortschrittes ausgegeben. Dies wurde von der Bevölkerung lange akzeptiert, Willy Brandt verlor noch die Bundestagswahl 1961 mit dem Slogan, dass »der Himmel über der Ruhr wieder blau« werden sollte. Die richtige Initiative kam zu früh, aber von 1972 an wurde im Westen mit technischem Umweltschutz Ernst gemacht. Nach gewissen Blockaden gegen Ende der 1970er Jahre ergaben sich die Früchte in der BRD in den 1980er Jahren und folgte nach der Wende eine schnelle Übernahme in der ehemaligen DDR. Heute beträgt der Ausstoß an Schwefeldioxid (SO2) nur noch 4 Prozent dessen in den beiden deutschen Staaten in den 1970er Jahren. So wie wir nicht verstehen, wie man sich mit der früheren Umweltbelastung jahrzehntelang abfand, werden sich spätere Generationen fragen, wie wir unsere heutige Schmuddelwirtschaft im Agrarbereich normal finden können, in der sich jährlich fast 1,7 Millionen Tonnen Stickstoff in der Landschaft der Kontrolle entziehen.
Die besonders vom damaligen Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher energisch vorangetriebene Umweltpolitik bewirkte nicht allein, dass vorhandene Techniken endlich eingesetzt wurden. Noch wichtiger war die Stimulierung des technischen Fortschrittes. Verlangt die Politik im Umweltbereich nichts, dann passiert auch nichts. Verlangt sie Dinge, die von den allgegenwärtigen Bremsern als »unmöglich« bezeichnet werden, dann braucht man nicht lange zu warten, bis es technische Fortschritte hagelt, die das »Unmögliche« möglich machen. Nachdem die Politik in Deutschland unter der Androhung eines Vertragsverletzungsverfahrens der EU-Kommission fünf Jahre verhandelt hatte, kam es 2017 zu Novellen des Düngegesetzes und der Düngeverordnung, wie näher im Abschnitt 6.9 beschrieben. Deren Wirkung bleibt abzuwarten.
Die Maßnahmen zur Bändigung der Stoffströme sind im Abschnitt 6.8.3 vorgestellt worden. Entscheidend für die Zusammenschau ist, dass sie sämtlich Geld kosten. Das ist der Unterschied zwischen den beiden technischen Problemen: Bei der Rettung und Mehrung der Biodiversität steht die räumliche Planung mit Autorität an erster Stelle und das Geld an zweiter. Bei der Bändigung der Stoffströme ist es umgekehrt. Auch hier spielt räumliche Planung eine Rolle, aber das Geld ist noch wichtiger. Die Schmuddelwirtschaft wird betrieben, weil sie billiger ist. »Billiger« heißt, dass sie zu Einsparungen in den Betrieben führt und dass die Kosten, in Geld ausdrückbar oder nicht, auf andere und auf die Zukunft verlagert werden.
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