Leseprobe »Alles, was dazwischenliegt«: Zwischen Richtig und Falsch
Rumi, der bekannte persische Dichter und Mystiker, schrieb: »Jenseits von Richtig und Falsch liegt ein Ort. Dort treffen wir uns.« Dieses Zitat ist jedem von uns mit großer Wahrscheinlichkeit bereits mehr als einmal begegnet und erfreut sich großer Beliebtheit. Ich bin mir sicher, dass die meisten Menschen, innerlich oder auch nach außen sichtbar, zustimmend nicken, wenn sie es lesen. Doch ich bin mir auch sicher, dass die wenigsten dieser Menschen sich fragen, warum sie diesen Worten zustimmen und was genau an diesen Worten so viel Anklang in ihnen findet.
»Jenseits von Richtig und Falsch« klingt erleichternd, verträglich und nach einem erwünschten Zustand. Wir möchten keinesfalls falschliegen und die Schuld und Verantwortung des Falschen tragen müssen. Dafür sind wir bereit, das »Richtig« aufzugeben. Jenseits dieser beiden Zustände können wir sein und uns begegnen, ohne uns zu verurteilen. Ohne uns in Schubladen und Kategorien einordnen zu müssen. Es fühlt sich frei an. Als gäbe es an diesem Ort, jenseits von diesen beiden schweren Kategorien, die so viel Unbehagen auslösen können, eine Unbeschwertheit und Freiheit, die innerhalb der Kategorien nicht denkbar wäre.
Es ist dieser Zwischenraum, der sich so befreiend und wohltuend anfühlt. Er nimmt uns die Angst vor der Last der Verantwortung, auf der falschen Seite zu stehen, oder die unerträgliche Bürde des Richtigliegens. Der Rechtschaffenheit, von der wir denken, dass sie unser Ziel sei, zu der wir hinstreben, doch die sich immer wieder als Falle entpuppt. Als ein Käfig, den wir freiwillig betreten, weil wir glauben, sicher in ihm zu sein. Ein Käfig, dessen Tür unerwartet gewaltsam hinter uns zufällt und der von unserem eigenen unerfüllten Bedürfnis nach Sicherheit und Kontrolle zugesperrt wird. »Ich bin da. Ich bin angekommen. Auf der sicheren Seite. Ich liege richtig. Ich habe mich denen angeschlossen, die richtigliegen, und bin nun eine der Rechtschaffenen.«
An diesem Ort, dem richtigen Ort, gibt es allerdings klare Grenzen, vor allem zum Falschen. Wenn ich diese Grenzen überschreite, verliere ich alle meine Privilegien der Sicherheit und Anerkennung für meine Rechtschaffenheit und falle ins Verderben. Ins Falsche. Auf die andere Seite. Auf die Seite der anderen. Denn in diesem kategorialen Denken gibt es uns, die Richtigen, und es gibt die anderen, die Falschen. Und plötzlich werden aus einer Gesellschaft, aus einem Wir, mehrere Wirs. Wir und die anderen. Und auch diese entwickeln ihre eigenen Regeln und erschaffen ihre Grenzen und leben innerhalb ihrer sozial erwünschten Kategorien, die das Miteinander regeln und alle »Wirs« von den anderen »Wirs« trennen.
Kein Wunder also, dass sich die Idee von diesem Ort, jenseits von diesen Kategorien, so befreiend anfühlt. Auch wenn kaum einer von uns an diesem Ort lebt. Weder haben wir es als Gesellschaft abschließend geschafft, diesen Ort – auch in der gelebten Praxis und Realität – zu errichten, noch setzen wir uns als Individuen wirklich dafür ein, diesen Ort zumindest und zunächst in uns selbst zu erschaffen, bevor wir ihn nach außen tragen können.
Aktuelle politische Geschehen, wie der wachsende Erfolg einer teilweise als gesichert rechtsextrem eingestuften politischen Partei in einem Land wie diesem, das die Gefahren besser kennen sollte als die meisten anderen Länder, demonstrieren, dass wir weit weg sind von diesem Ort, den Rumi einst beschrieb. Ich frage mich, ob ein Mensch diesen Ort jemals betreten hat, ob dieser in der Realität bereits existiert oder ob er erst geschaffen werden muss. Ich glaube, dass es sich eher um einen Zustand handelt, den wir zunächst – jeder für sich – in uns selbst herstellen müssen, um ihn dann im Außen erschaffen zu können.
Die autoritäre Persönlichkeit
Else Frenkel-Brunswik wurde 1908 in Lwiw (heutige Ukraine) geboren und musste aufgrund antisemitischer Pogrome im Jahr 1914 – im zarten Alter von zwölf Jahren – mit ihrer Familie nach Wien f liehen. Dort absolvierte sie das Abitur, studierte zunächst Mathematik und Physik an der Universität Wien, wechselte aber später zur Psychologie und musste ein weiteres Mal ihre neue Heimat verlassen, denn auch diese hatte sich gegen sie gewendet und sich NaziDeutschland angeschlossen. Sie emigrierte nach Amerika, erhielt ihre Promotion in Psychologie an der University of Iowa und wurde später eine enge Mitarbeiterin von Kurt Lewin, einem ebenfalls einf lussreichen Psychologen.
Else Frenkel-Brunswik leistete einen bedeutenden Beitrag zur Psychologie, insbesondere zur Erforschung der autoritären Persönlichkeit und des Antisemitismus. Frenkel-Brunswik war eine der Forscherinnen, die an den Studien zur autoritären Persönlichkeit beteiligt waren, die von Theodor W. Adorno, Nevitt Sanford und Daniel J. Levinson in den 1940er-Jahren durchgeführt wurden – wobei ihre Beiträge nicht annähernd so viel Anerkennung fanden wie die von ihren männlichen Kollegen und Vorgesetzten.
Ihre Studien untersuchten psychologische Merkmale und Einstellungen, die mit autoritären Denkweisen in Verbindung stehen könnten, und waren eine Reaktion auf die aufkommenden totalitären Regime in Deutschland beziehungsweise Europa. Sie trug auch maßgeblich zur Erforschung des Antisemitismus bei und analysierte die psychologischen Faktoren, die zu Vorurteilen und Diskriminierung führen können. Sie stellte die Frage nach den Charakterstrukturen, die Menschen anfällig für faschistische Ideologien machen, was in dieser Zeit nicht nur bahnbrechend, sondern auch politisch hochaktuell und gesellschaftlich relevant war. Anders gesagt: Sie untersuchte den Raum, den Rumi als »richtig« und »falsch« bezeichnete.
Was genau sie und ihre Kollegen da fanden, darauf möchte ich an anderer Stelle eingehen. Was sie mithilfe ihrer Forschung notwendigerweise auch beschreiben konnten, war der Ort jenseits von Richtig und Falsch. Denn wenn ich die Kategorien und ihre engmaschigen Grenzen identifizieren will, muss ich auch wissen, wo sie anfangen und wo sie aufhören. Ich muss verstehen, ab wann etwas in eine Kategorie gehört und wann nicht. Alles, was dazwischenliegt, ist dann das, was ungewiss, unsicher, unklar und damit ambig ist. Es kann mehrere Deutungen haben, ist von Natur aus uneindeutig, denn wenn es eindeutig wäre, würde es in eine Kategorie fallen können.
Ist Rumis ersehnter Ort also nur eine Falle? Ein unsicherer, dunkler Raum, der alles und nichts sein kann? Nein, noch nicht einmal das kann er sein. Denn dann wäre er wieder eindeutig. Er wäre alles. Oder er wäre nichts. Doch dieser Raum schafft es noch nicht einmal, der vagsten Formulierung standzuhalten. Er ist so uneindeutig und unklar, dass er keine Freiheit und Erleichterung mehr auslöst, sondern eine erdrückende Ungewissheit. Wenn ich die vorgefertigten, mit Grenzen und Stadtmauern umzäunten Orte der Dichotomie von Richtig und Falsch nun verlasse, um mich aufzumachen an einen Ort voller Ungewissheit, gebe ich meine Sicherheit, meine Kontrolle und alles, was ich an Ordnung und Struktur in mir und um mich aufgebaut habe, auf. Warum sollte ich das tun, Rumi? Warum sollte ich dir dorthin folgen, dich dort treffen wollen?
Denn denke ich nur an diesen Ort, dann ist da Angst vor mir. Ich wage zu behaupten, dass ich durch meine Sozialisierung in der aktuellen Gesellschaft keine Fertigkeiten und Kompetenzen dafür mitbekommen habe, an solch einem ungewissen Ort zu überleben. Was wir alle durch unsere Sozialisierung mitbekommen haben, ist vermutlich eher das kontinuierliche Streben nach Kontrolle, um jegliche Ungewissheit und Angst nicht aushalten zu müssen. Wir wachsen in sehr eingegrenzten und kontrollierten Rahmen auf, in denen wir uns bewegen. Wir lernen früh Regeln und Normen kennen und wissen, wie wir uns zu verhalten haben, um gemocht oder geduldet zu werden – je nachdem. Bereits im Kindesalter lernen wir eine ganze Menge »Das macht man nicht« und »Das gehört sich nicht«. In der Schule ist klar, was gefordert wird, um »weiter« zu kommen und »erfolgreich« zu sein. Uns wird in der Schule nichts so sehr gelehrt wie Gehorsam und Stillsitzen.
Ich weiß noch, wie ich jahrelang von einem Lehrer entweder ignoriert oder gezielt gemobbt wurde, weil ich seiner Meinung nach ungehorsam war. In seiner Welt der Regeln war das auch zutreffend. In meiner Welt habe ich mich für einen Mitschüler eingesetzt, der von diesem Lehrer immer wieder schikaniert wurde. Als ich ihm meine sachliche Kritik an seiner Vorgehensweise als Pädagoge mitteilte und den Schüler in Schutz nahm, brachte er mich sofort zum Schweigen und erteilte mir eine Strafarbeit. Ich sollte einen Aufsatz über »blindes Reden« schreiben. Da ich sprechen würde, ohne etwas zu wissen. Ich schrieb diesen Aufsatz. Ich schrieb, dass ich unter solidarischem Handeln kein blindes Reden verstehen könnte, was möglicherweise auch an meiner »Blindheit« für Wissen liegen könnte. Wenn ich nichts wüsste, so wie er es mir unterstellte, wie sollte ich dann meine eigene »Blindheit« (er meinte wahrscheinlich Unwissenheit) erkennen können? Wie soll ich sehen, wenn ich doch blind bin? Ich erklärte ihm dafür aber, was ich unter blindem Reden verstand, und schrieb drei Seiten darüber, wie er sich als Lehrer im Unterricht verhielt und nichts als Angst und Schrecken unter uns Schülerinnen und Schülern verbreitete. Ich nannte zahlreiche Beispiele seines Verhaltens in den letzten Jahren. Meine Mutter riet mir ab, den Text so abzugeben, und versuchte, mich zu überreden, ruhig und freundlich zu bleiben. Bloß nicht dem Lehrer widersprechen. Gehorsam. So wurde ihr es als Gastarbeiter-Kind schon früh eingetrichtert.
Ich gab den Aufsatz am nächsten Morgen ab, und er las ihn direkt im Matheunterricht. Ich wusste, dass er einen gehorsamen Aufsatz erwartet hatte, in dem ich mich demütig und reuevoll zeigte und nach dessen Lektüre er mich auf etwaige Rechtschreibfehler hinweisen und vor der ganzen Klasse lächerlich machen könnte. Er erwartete – so wie er es seit über 30 Jahren als Lehrkraft gewohnt war – einen Triumph. Den wollte ich ihm keinesfalls geben. Nicht auf meine Kosten. Auch wenn ich da schon wusste, dass mich dieser kleine Triumph die nächsten Schuljahre sehr viel Kraft kosten würde. Das war es wert. Ich beobachtete von meinem Platz aus, wie sein Kopf beim Lesen der Zeilen immer röter wurde. Ich musste an die rote Königin aus der fantastischen Erzählung »Alice im Wunderland« denken, und in einem Tim-Burton-Film wäre die Szene hier in diesem Klassenzimmer bunt und eindrucksvoll gewesen. Diese fantastische Tim-Burton-Vorstellung ließ mich das cholerische Schreien und dabei (unabsichtliche) Spucken viel besser ertragen. Ich lächelte in mich hinein und war unfassbar stolz, dass ich nicht, wie in 90 Prozent der Fälle zuvor, eingeknickt war und mich gehorsam und reuevoll verhalten hatte.
Der Aufsatz war nur für seine Augen gedacht. Das erkannte er, als er mir damit drohte, dass er diesen Aufsatz dem Schulleiter vorlegen und eine Schulkonferenz einberufen würde.
Ich nickte nur, wohl wissend, dass er das niemals tun würde – ja niemals tun könnte, ohne dass der Schulleiter und alle seine Kollegen erfahren würden, was er tatsächlich im Unterricht tat und was er über sie gesagt hatte. Denn um keine Konsequenzen auf Schulleiter-Ebene fürchten zu müssen, hatte ich bewusst auch Situationen beschrieben, in denen er über andere Lehrkräfte und die Schulleitung gelästert hatte.
So gut sich das in dem Moment auch anfühlte, zu mir selbst, zu anderen und zu meiner Meinung zu stehen: Ich zahlte dafür einen hohen Preis. Bei jeder Gelegenheit, die sich ihm bot, wurde ich von da an jahrelang von ihm schikaniert und ungerecht behandelt. In einem System, in dem der Lehrer sehr viel mehr Macht hat als die Schülerinnen und Schüler, ist kaum etwas dagegen auszurichten. Ungehorsam lohnt sich für uns meistens nicht. Wir werden dazu erzogen, den Machtvolleren zu gehorchen und uns anzupassen, statt selbst zu denken und diese Gedanken einzubringen. Wir erhalten Aufgaben, deren Antworten entweder richtig oder falsch sind. Wenn wir in Matheaufgaben die richtige Lösung – allerdings über einen anderen Weg – errechnet hatten, wurden wir dafür mit Punktabzug bestraft. »Richtige Lösung, aber falscher Weg« stand dann in roter Schrift neben der Aufgabe.
Es gibt also eine Aufgabe, eine richtige Lösung und einen richtigen Weg zu dieser Lösung. Alles andere ist falsch. Das lernen wir. Uns in einem eingegrenzten Rahmen von Möglichkeiten zu bewegen und alles andere auszublenden. Alles, was dazwischenliegt, alle ungewissen Wege werden so gemieden und machen kreative Lösungen damit unwahrscheinlicher.
Aber zurück zu Rumi: Was nehme ich denn mit, wenn ich auf eine Reise gehe, deren Ziel so unklar und uneindeutig ist, dass es mir unmöglich erscheint, mich darauf vorbereiten zu können? Was packe ich in einen Koffer, wenn ich nicht weiß, was ich dort brauchen werde, wenn ich nicht einmal weiß, wo oder was »dort« ist?
»Vorbereiten«, »Koffer«, »einpacken«, »brauchen«, »wissen müssen«, höre ich mich selbst denken und immer wieder wiederholen. Rumi würde lachen. Ich stelle mir vor, dass er schelmisch grinsend, aber ohne dabei anklagend zu wirken – er könnte die Balance halten, die es benötigt, damit sich das Gegenüber freundlich ertappt, aber nie erniedrigt fühlt –, so was Ähnliches sagen würde wie: »Die Verunreinigung des Ungewissen ist die Klarheit und Sicherheit. Lass das Ungewisse ungewiss sein.«
Natürlich würde er es nicht so stümperhaft wie ich ausdrücken, aber die Botschaft wäre eindeutig. Eindeutig. Wer zwischen den Zeilen lesen kann, spürt vielleicht, wie ich hier über mich selbst lache.
Aber wie soll ich denn auch meinen 34 Jahren kategorialen Denkens und der Suche nach Eindeutigkeit entfliehen? Wie soll ich diese Ungewissheit aushalten? Und um diese Motivation erst zu erlangen und zu aktivieren, stellt sich zunächst die Frage, nach dem Warum. Warum soll ich die Komfortzone der Eindeutigkeit verlassen, die Grenzen des Sicheren überschreiten, nur um mich an einen ungewissen Ort zu bewegen?
Ich gebe zu, mir persönlich würde die Antwort »Weil Rumi es sagt« ausreichen, doch um – falls jemand fragen sollte – eine fundiertere Auskunft erteilen zu können, möchte ich, und das sicher nicht zum letzten Mal in diesem Buch, auf Else Frenkel-Brunswiks Arbeit zurückkommen, die unter anderem zum Thema Faschismus und Persönlichkeit geforscht hat. Denn von Frenkel-Brunswik wurde die Ambiguitätstoleranz als eine Persönlichkeitseigenschaft definiert, die erworben werden kann. Die gemeinsamen Studien um Adorno und Frenkel-Brunswik stießen auf eine Ansammlung an Eigenschaften, die sie und ihre Kollegen als zusammengehörig einstuften und aus denen eine Kategorie gebildet werden konnte: die sogenannte »autoritäre Persönlichkeit«. Und die beschreibt ganz gut, warum wir an der Fähigkeit, die Ungewissheit und Uneindeutigkeit auszuhalten, arbeiten sollten.
Die autoritäre Persönlichkeit wird als eine spezifische Art der Persönlichkeitsstruktur betrachtet, die bestimmte Einstellungen, Werthaltungen und Verhaltensweisen aufweist. Das heißt, ein Mensch ist
laut dieser Theorie zu dem Grad als autoritäre Persönlichkeit einzustufen, zu dem er oder sie zu diesen Eigenschaften neigt.
Zur autoritären Persönlichkeit zählen Eigenschaften wie autoritärer Gehorsam, ethischer Absolutismus, Tendenz zu rigiden moralischen Vorstellungen, bei denen moralische Fragen in absoluten Schwarz-Weiß-Kategorien betrachtet werden. Außerdem die Aggressivität gegenüber Minderheiten, strenge Konventionalität, rigide Denkstrukturen und vor allem die Tendenz zu starren Denkmustern und begrenzter Offenheit für neue Ideen oder Perspektiven.
Natürlich sollten wir den historischen Kontext beachten, in den dieses Konzept zwingend eingeordnet werden muss. Wie bereits erwähnt, ist diese Forschung während des Zweiten Weltkriegs um 1940 entstanden und dementsprechend nicht ohne Aktualisierungen übertragbar. Doch die Erkenntnisse lieferten wichtige Grundbausteine für die Persönlichkeitsforschung und Populismus- sowie Faschismustheorien und sind trotz ihres Alters noch oder gerade wieder schockierend aktuell – wenn auch nur theoretisch zu Forschungszwecken. Denn in der psychotherapeutischen Praxis existiert keine entsprechende Diagnose.
Die autoritäre Persönlichkeit sagt im Grunde nur aus, wie wahrscheinlich es für einen Menschen ist, faschistisch zu sein oder zu handeln. Dazu wurde von Frenkel-Brunswik und Kollegen die Faschismus-Skala (F-Skala) entwickelt, die unter anderem die oben genannten Eigenschaften erfassen soll. Spannend war, dass sie dabei weitere Zusammenhänge entdeckten. Sie postulierten, dass Menschen, die hohe Werte auf der F-Skala erhielten (hoher Faschismus), auch folgende Eigenschaften zeigten: Feindseligkeit, Machtorientierung, Externalisierung, Rigidität und Intoleranz gegenüber Mehrdeutigkeit.
Eine Intoleranz gegenüber Mehrdeutigkeit. Daraus lässt sich wiederum ableiten, dass es auch eine Toleranz gegenüber Mehrdeutigkeit geben muss, beziehungsweise dass man intolerantes Verhalten gezielt abbauen könnte, um Toleranz herzustellen. Diese Fähigkeit, die Toleranz von Mehrdeutigkeit, dieses ermutigende Konzept in den grausamen Zeiten des Nationalsozialismus, nannten sie Ambiguitätstoleranz.
Ambiguitätstoleranz ist die Toleranz für ambige – also uneindeutige, ungewisse, mehrdeutige – Situationen. Es ist die Fähigkeit, die es benötigt, um an den Ort, den Rumi beschrieb, reisen zu können. Es ist das, was wir in unseren Koffer legen können, um uns auf diese Reise vorzubereiten. Es ist das Gegenmittel, welches wir in unserer Tasche wissen sollten. Es ist die einzige und sinnvollste Vorbereitung, die wir treffen können, wenn wir uns auf den Weg machen, alte Strukturen, einengende Denkmuster und Glaubenssätze, längst überholte Wertvorstellungen oder Grenzen zwischen Gruppen von Menschen zu verlassen.
Warum wir das tun sollten, hat uns Else Frenkel-Brunswik gemeinsam mit ihren Kollegen bereits im Jahr 1940 gezeigt. Wir laufen sonst Gefahr, feindselige, rigide, machtorientierte, aggressive, diskriminierende, autoritäre, absolutistische und möglicherweise faschistische Menschen zu werden oder diese zu tolerieren. Natürlich muss eine fehlende Ambiguitätstoleranz nicht in diesem Extrem enden, und glücklicherweise tut sie das auch nicht so häufig, wie es sich manchmal anfühlt.
Doch bereits rigides Denken, die Neigung zu starren Kategorisierungen, das Schwarz-Weiß-Denken und die fehlende Offenheit sind Risikofaktoren für unsere mentale Gesundheit und beeinflussen unsere Beziehungen und unser soziales Miteinander in nicht unerheblichem Maße. Die Fähigkeit, die wir hier zunächst dringend brauchen, und wer mein erstes Buch kennt, weiß, dass ich nicht müde werde, das zu sagen, ist eine ehrliche und konfrontative Selbstreflexion.
Stereotype
Aber Hand aufs Herz – wer von uns nimmt sich schon täglich und regelmäßig Zeit dafür, eigene Gedankengänge, -muster, indoktrinierte Stereotype und Glaubenssätze oder individuelle und kollektive Werte- und Normvorstellungen zu reflektieren, geschweige denn zu hinterfragen oder gar zu verändern?
Vielleicht kaufen wir uns immer wieder mal, recht motiviert von Zeilen wie diesen oder inspirierenden Zitaten, Bücher zum Thema, die dann aber in unserem Regal verstauben. Oder wir hören, während der kurzen Zeit zwischen Aufwachen und Am-ArbeitsplatzSitzen, eine Podcast-Folge, die verspricht, dass sie helfen wird, uns selbst besser kennenzulernen, und vielleicht könnte sie diesem Ziel auch gerecht werden – ich mag das nicht beurteilen oder pauschalisieren –, jedoch geben wir ihr keine echte Chance dazu, weil wir im Grunde nicht die Inhalte aufnehmen, sondern nur noch Informationen konsumieren. Eine Information nach der anderen.
Diese Flut an Informationen will natürlich auch verarbeitet, abgelegt und sortiert werden. Das muss – gerade bei der rasanten Darbietung der in Millisekunden neu aufkommenden Inhalte – schnell und effizient gehen. Unser Gehirn kann sich da nicht leisten, zunächst zu stoppen, innezuhalten und uns reflektieren zu lassen, was wir da eigentlich gerade alles innerhalb einer 30-minütigen Mittagspause aufgenommen haben. Kurz bevor wir wieder am Arbeitsplatz sind und mit den nächsten nicht enden wollenden Informationen versorgt werden, muss also schnell sortiert werden.
Leider endet die Leseprobe an dieser Stelle. Das Buch »Alles, was dazwischenliegt« bietet den Rest des Kapitels und mehr.
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