Leseprobe »Aufbrechen«: Tun, was wir wirklich wollen
Ich habe Menschen getroffen, die getan haben, was sie schon lange tun wollten, die gefunden haben, was sie begeistert, und sie erzählen davon voller Lebensfreude: Sie bauen mit eigenen Händen Pferdeställe zu Häusern um, kaufen Steinway-Flügel, die teurer sind als eine Zweizimmerwohnung im Trierer Süden, sie wandern monatelang allein durch Europa, gründen ein Unternehmen, wenn andere schon an die Rente denken, nehmen 60 Kilo ab, lassen sich nebenberuflich zum Rettungssanitäter ausbilden, erfinden ein Coachingsystem und Leute rennen ihnen die Bude ein oder lernen mit Mitte fünfzig Segeln und durchkreuzen die Meere.
Menschen, die aufbrechen und leben. Menschen, die so sind wie wir, so kraftvoll, so lebendig, so lebensfroh, nur ein ganz klein bisschen anders vielleicht. Was das andere war, wollte ich finden.
Die Tür meines Arbeitszimmers zum Wald hin habe ich weit geöffnet. Die Hunde liegen in der Sonne davor, ich sitze ruhig am Schreibtisch und schaue hinaus. Es ist Frühling, der Garten führt über die Wiese in den Wald. Jan Vogler spielt auf seinem Barockcello. Seit Wochen ist die Raserei des tobenden Wahnsinns vorbei; die Pandemie nimmt das Tempo. Ich bin in mir, wie schon seit Langem nicht mehr.
Einfach sein. Fast wie in einem wunderbaren Urlaub: Ganz in sich ruhen und aufs Meer schauen. Was für ein Gefühl, die Weite und Tiefe des Meeres wahrzunehmen. Und die Tiefe des Mensch- Seins darin zu spüren. Irgendwann sitze ich mit Andrea, Noah und Vinci wieder am Meer. Doch in diesem Sommer nicht, denn in diesem Sommer ist eine andere Zeit.
Etwas zu erforschen heißt, sich lange Zeit zu vertiefen, um die eine Forschungsfrage beantworten zu können. In diesem Sommer ist Zeit dafür. Und so stelle ich Fragebögen online, treffe Menschen analog oder digital, führe Tiefeninterviews und werte Studien aus, um diese eine Frage zu beantworten: »Was brauchen wir, um mitten im Leben aufzubrechen und inneren Impulsen zu folgen?« Und weiter noch: Woher kommt dieser Impuls zum Aufbrechen, und wie kann der Weg gelingen?
Zu diesem Zeitpunkt im Frühling wusste ich noch nicht, dass ich im Laufe dieses Jahres das Geheimnis ergründen würde. Ich würde etwas Wertvolles finden, was meinen Blick auf das Leben verändert. Und noch mehr als das: Ich würde etwas finden, was unser Verhalten, unser Handeln verändern, uns wandeln kann.
Den Weg dorthin würde ich gerne mit dir gemeinsam gehen, dich also für dieses Forschungsprojekt quasi als Forschungspartnerin oder Forschungspartner gewinnen – und vielleicht zieht es dich ja genauso in den Bann wie mich. Und ab und an verlassen wir die geradlinigen Wege und folgen eher dem US-amerikanischen Philosophen Ralph Waldo Emerson, dem der Ausspruch zugeschrieben wird: »Folge nicht dem Weg, wohin er auch führt – sondern gehe dorthin, wo es keinen Weg gibt, und hinterlasse einen Pfad.«
Jede Forschung beginnt mit einem Anstoß: Irgendein Phänomen, das man nicht erklären kann, eine Informationslücke, Widersprüche, etwas, das man herausfinden muss, wissen will, also schlicht: Neugier. Deshalb sind viele Forscher ziemlich neugierig.
Neugierige Menschen haben ein hohes Interesse an neuen Erfahrungen und ihrer Umwelt. Sie interessieren sich für viele Bereiche und mögen abwechslungsreiche Situationen – lieben den hohen Herausforderungscharakter dieser.
Als Kind hätte mich meine Neugier fast umgebracht. Ich wollte etwas entdecken und oft endete es dann ziemlich unerwartet: Mal steckte ein rostiges Messer zwischen meinen Handknochen, mal mein Kopf im Treppengeländer fest und als ich mit fünf Blutegel fangen wollte, fiel ich im Winter in einen wassergefüllten Bombentrichter.
Heute bin ich Forscherin und so formalisierte sich die Neugier, doch das Abenteuer blieb. Es verändert uns, wenn wir uns und unsere Umwelt erkunden. A life-changing act sozusagen. All das, was wir erleben und erfahren, kann lebensverändernd sein. Und das gilt auch für kognitive Erlebnisse. So sind beispielsweise Menschen, die zu Hause viele Bücher haben, offener für neue Erfahrungen als Menschen aus Haushalten mit nur wenigen oder keinen Büchern. Oder wenn wir wissen, dass der Aufzug im Hotel vor sechs Wochen abgestürzt ist, nehmen wir lieber die Treppe.
Auch tiefer Wandel in der Persönlichkeit ist inzwischen gut belegt: So werden wir mit dem Alter verträglicher (nicht alle, aber die meisten von uns!), gewissenhafter (ist ja auch unpraktisch, wenn man zu unordentlich ist, um die Hörgeräte wiederfinden zu können) und – das ist besonders tröstlich – emotional stabiler. Wir haben dann also weniger Angst, weniger Depressionen, weniger Wut und sind weniger empfindlich. Das macht uns im Alter freier.
Neugier führt zu Wissen und Wissen verändert uns. Unsere gemeinsame Forschung wird uns verändern. Also fangen wir an!
Die Forschung beginnt zunächst mit assoziativem Suchen nach Vorwissen, Fragen, Erkenntnissen zum Thema. Ich habe das ungefähr so gedacht, wie es auf den folgenden Seiten steht.
Eroberung der Lebensgestaltung
Wir müssen uns eingestehen, dass unsere Versuche, uns an die immer schneller rotierenden Verhältnisse anzupassen, vergeblich waren. Fast wie in dem Lied von Manfred Mann, »Blinded by the light« rennen wir wie wahnsinnig, geblendet durch die Nacht. Wir werden nie so schnell so perfekt, so entfremdet, so selbstoptimiert sein, dass wir genügen. Die Erwartungen haben sich nicht erfüllt. »Blinded by the light«. Und diese Erkenntnis hat etwas ungeheuer Befreiendes, lässt sie doch den ganzen Druck skrupellos zurück. Vielleicht kommt jetzt die Zeit des freien Durchatmens.
Es ist eine Zeit gekommen für die Rückbesinnung auf das allgemein Menschliche, eine Rückbesinnung auf uns selbst – ein selbstbestimmtes, freies Selbst. Es ist Zeit für eine Eindämmung des inneren Drucks und der Beeinflussung durch äußere Ansprüche. Viele wollen nicht mehr so überhitzte Ansprüche an sich selbst stellen, wollen nicht mehr den übersteigerten Erwartungen bei der Arbeit entsprechen, sich nicht mehr dem Termindruck oder der ständigen Erreichbarkeit aussetzen – denn all das entspricht nicht unserem menschlichen Sein.
Nicht nur durch den Klimawandel, nicht nur durch die Pandemie, nicht nur durch die zunehmenden Naturkatastrophen oder den massiven Populismus, sondern auch wegen deren Durchschlagskraft auf uns als Individuen, was sich in wachsendem Psychopharmakakonsum, Schlafstörungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und zunehmender emotionaler Härte zeigt, haben wir einen deutlichen Schrei vernommen: Es ist der Schrei der finalen Erschöpfung von Mensch, Kultur und Natur. Und er weckt unsere tiefe innere Gewissheit, die wie ein Seismograf ausschlägt auf das, was falsch oder eben wichtig und richtig ist. Wir wollen die Hände frei haben, um zu greifen, fassen, gestalten und leben.
Daher können wir nun fordern, dass sich ab jetzt die Welt an uns anzupassen habe. Wir erobern uns die eigene Lebensgestaltung. Brechen sie heraus aus den Händen überangepasster Marktorientierungen, leistungsoptimierender Qualitätsmanagementsysteme und aus den überbordenden, unmenschlichen, entmenschlichenden Ansprüchen von Profit- und Non-Profit-Organisationen, von Unternehmen, Schulen, Hochschulen, Kirchen, Parteien, Vereinen und mehr.
Es ist ein aus dem Scheitern geborener Neuanfang, ein Aufbruch in offenes Gelände. Und was fangen wir nun an mit diesen neuen Räumen der Freiheit? Zunächst vielleicht die derzeitige Grundentschleunigung, die derzeitige Beruhigung, ein Stück weit zu halten. Ruhig bleiben, um das zu tun, was unserem tiefsten Innersten wirklich entspricht: wachsen, uns menschengerecht entfalten, in unseren eigenen Talenten, Werten, in unserem eigenen Sein – also ein gutes Leben führen. Denn, frei nach Oprah Winfrey, das größte Abenteuer, was wir jemals erleben können, ist das Leben unserer Träume zu leben. Und nun bemächtigen wir uns dazu selbst. Stell dir einfach vor, dass du das machst, was du gerne machen willst …
So wie Norbert, Mitte sechzig, groß gewachsen, graues, dichtes Haar, muskulös, leichter Bauchansatz, breite Schultern, den ich an einem sonnigen Abend in einem kleinen Bergdorf in der Eifel bei einem kühlen Moselriesling interviewe. Er hat sich einen abenteuerlichen Lebenstraum erfüllt (davon später mehr), und als ich ihn frage, warum er das gemacht hat, schaut er mich völlig entgeistert an und sagt voller Inbrunst: »Ja für mich selbst! Um zu sehen: Ja, ich kann das schaffen, wenn ich das will. Dazu musst du nur damit anfangen und dann eben kontinuierlich daran festhalten.« Und etwas später dann: »Ich wollte immer etwas Neues probieren, damit man nicht in so eine Monotonie fällt.« Wir treffen Norbert später wieder.
Einige Teilnehmerinnen und Teilnehmer unserer letzten Untersuchung formulierten es so: Eine 25-Jährige, die das Wandern für sich entdeckt hat, nennt es »meine persönliche Me-Time, nur ich und der Wald«. Ein 63-Jähriger findet durch das Reisen »mehr Lebensfreude«. Eine 37-Jährige pflanzt so gerne Blumen und Gemüse an: »Ich freue mich wahnsinnig über das Wachstum meiner Pflanzen und staune immer wieder über die wunderbare Natur. Ich liebe es, die Bienen, Falter und die anderen Insekten zu beobachten. Es fasziniert mich und macht mich einfach tief zufrieden.« Eine 29-Jährige schreibt über das Chorsingen, dass es »das ist, was ich am allerliebsten tue«. Und eine 71-Jährige schließlich gibt Kurse in kreativem und autobiografischem Schreiben. Sie hat diese neue Fähigkeit gefunden, indem sie sich auf eine neue Herausforderung eingelassen hat, »ohne zu wissen, was genau da auf mich zukommt«, und sie hat es auch deshalb gewagt, »weil andere mir das zugetraut haben«. Nach der Bedeutung dieser Entdeckung für ihr Leben gefragt, schreibt sie: »Es bereichert und erfüllt mich ungemein und macht mich zutiefst dankbar und glücklich.« Sie heißt Hanne und ich habe mich mit ihr verabredet, um mehr von ihr zu erfahren.
Nach diesen ersten Überlegungen und Impulsen folgt in unserem Forschungsprojekt im zweiten Schritt die theoretische Phase: Wir recherchieren nach Literatur, stöbern in Datenbanken, sichten die bereits vorhandenen Ansätze und Modelle – also das bisherige Wissen – und werden so von all jenen Kolleginnen und Kollegen getragen, die vor uns an dem Thema gearbeitet haben. Ein solides Fundament. Und vielleicht können wir etwas Neues zu diesem Wissen beitragen und so eines Tages die nächsten Forscherinnen und Forscher auf unseren Schultern tragen, damit auch sie das Wissen der Menschheit vertiefen.
Wenden wir uns also zunächst den Basics zu: Was ist Entwicklung und wie entsteht sie? Wir werden sehen, dass wir unsere individuelle Entwicklung beeinflussen können. Wir sind unsere eigenen Entwicklungshelfer, und zwar klarer und stärker, als wir bisher dachten.
Wodurch entwickeln wir uns?
Zunächst ein schlichter Blick in die Lexika. Woher stammt das Wort »Entwicklung«?
1859 schreiben die Gebrüder Grimm in ihrem Wörterbuch, das Wort stamme vom niederländischen »ontwikkelen«, »entfalten«. Und so ähnlich auch an anderen Stellen: Das Wörterbuch des deutschen Wortschatzes (DWDS) spricht von sich entwickeln in einem Prozess, vorwärtsschreiten, sich zu etwas entwickeln, langsam einen neuen Zustand annehmen, etwas bildet sich aus etwas heraus, entsteht nach und nach, bringt etwas hervor, entfaltet sich, bis hin zur veralteten Deutung: sich aus etwas auswickeln, sich auseinanderrollen.
Wie schön: etwas auswickeln, etwas auseinanderrollen, langsam einen neuen Zustand annehmen. Und in einigen Monaten von jetzt an können wir in einer vollkommen anderen Lage sein: emotional, mental, körperlich. Ja, wir können das.
Entwicklungspsychologisch gesehen verweben sich in unserem Leben zwei Stränge: zum einen der universelle, zum anderen der individuelle Teil unserer Entwicklung.
- Die psychischen und physischen Veränderungen in Kindheit und Jugend sind universell, beziehen sich also kulturübergreifend auf alle Menschen, wie zum Beispiel greifen, krabbeln, laufen oder sprechen lernen durch Reifung. Mit dem Erwachsenenalter ist dieser universelle Entwicklungsvorgang dann abgeschlossen.
- Individuelle Entwicklungsvorgänge stehen dem universellen Ansatz zur Seite. Individuell entwickeln wir uns ein Leben lang bis zum letzten Atemzug weiter.
Individuelle Entwicklungen werden durch die »Erfahrungen« beeinflusst, die wir im Laufe der Zeit machen. Denn diese Erfahrungen führen zu Wissen und das Wissen zu Veränderung. So können beispielsweise Erfahrungen mit dem Partner, den Eltern, mit Krankheiten, Geburt oder dem Tod eines nahestehenden Menschen entscheidend für unsere Entwicklung sein. Abgesehen von solchen einschneidenden Erlebnissen sind auch alltägliche, emotional weniger tiefe Erfahrungen lebensverändernd – also entwickelnd.
Uns zu entwickeln, bedeutet zu lernen. Lernen ist einer der natürlichsten und lebendigsten Prozesse der lebendigen Existenz. Lernen bedeutet, dass wir unser Verhalten oder unsere Verhaltensmöglichkeiten ändern, und zwar auf der Grundlage gemachter Erfahrungen. Lernen ist also eine Verhaltensänderung aus Erfahrung. Sie ist ein deutliches Indiz für geänderte Vorgänge im Nervensystem und kann sich auf verschiedene Bereiche beziehen, beispielsweise können es motorische (Bewegung), physiologische (Herzrasen), kognitive (Fremdsprache sprechen) oder emotionale Verhaltensänderungen (Umarmung) sein.
All das sind Indizien für Lernvorgänge. Zwar sind nicht alle Persönlichkeitsunterschiede dadurch erklärbar, dass jemand etwas gelernt hat, denn wir werden noch sehen, dass rund die Hälfte der Persönlichkeit durch die Umwelt geprägt ist. Diese Umwelt sollte daher eben möglichst stimulierende Lernchancen bieten, damit Selbstentfaltung gelingt. Vermissen wir Stimulation, können wir auf die Suche nach neuen Herausforderungen gehen.
Leider endet die Leseprobe an dieser Stelle. Das Buch bietet den Rest des Kapitels und mehr über »Aufbrechen: Die Freiheit zur Selbstentfaltung gewinnen«.
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