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Leseprobe »Das große Buch der Gefühle«: Vom Sinn und nutzen der Gefühle

Die heutige Zeit lässt kaum Raum für Gefühle – und doch bestimmen sie alle Facetten unseres Lebens und Handelns. Schöne Gefühle, gefährliche Gefühle, verdrängte Gefühle – wer sie annimmt, erhält wichtige Auskünfte über die eigene Persönlichkeit, Geschichte und Entwicklung. Eine Leseprobe
Emotionswürfel

Wenn ein Mensch in seinem Schmerz versinkt und die Trauer ihn blind macht für all das, was in seinem Leben erfreulich ist, wenn der Jähzorn unkontrollierbar aufsteigt und Menschen verletzt, die man gar nicht verletzen möchte, wenn die Angstgefühle jemanden nachts aus dem Schlaf reißen – dann sind Gefühle oft eine als sinnlos schmerzhaft empfundene Last.

Doch wenn die Trauer hilft, von etwas Vergangenem loszulassen, wenn der Zorn auf jemanden, der uns verletzt hat, bewirkt, dass wir uns diese Person vom Leib halten, wenn die Angst uns vor einem Unfall bewahrt – dann sind die Gefühle sinnvoll und werden auch als solche empfunden.

Und die Lust am und im Fühlen macht auch Sinn, denn sie ist gespürte Lebendigkeit, Belohnung und Antrieb zugleich.

Gefühle machen also Sinn. Besser ausgedrückt: Sie machen in der Regel Sinn, auch wenn sie zu Leiden führen und Ausdruck von Leiden sein können.

Wie sind Gefühle in den Gesamtorganismus eingebunden?

Die Fähigkeit, zu fühlen und zu erleben, ist immer schon vorhanden, sobald wir lebendig werden. Die phänomenologische Philosophie, der wir uns verbunden fühlen, benutzt dafür den Begriff »Leib«. Der Leib, der sich und seine Welt erlebende Mensch, ist die Grundlage, auf der sich Gefühle und ähnliche Regungen entwickeln. Bevor wir ein Gefühl bemerken, war es schon da.

Gefühle gehören zu den spontanen Lebensregungen wie Atmen, Gehen, Weinen usw. Wir können sie insoweit beeinflussen, wie wir auch unser Atmen und Gehen beeinflussen können. Doch in der Regel atmen und gehen wir so unwillkürlich, wie wir fühlen.

Unser Leib ist immer schon da und wir können ihn bewusst erleben. Ähnlich verhält es sich mit unseren Gefühlen. Sie sind immer schon da und wir können sie achtsam erspüren.

Dies zu wissen ist wichtig. Denn Gefühle sind ja nicht nur die dramatischen Spitzen unseres Erlebens, nicht nur der Tränenschwall, der Zornesausbruch oder die Liebeserschütterung, die wir spontan bei uns wahrnehmen. Gefühle sind immer da, sind auch klein und unscheinbar, können unbewusst bleiben oder erspürt werden. Das achtsame Erspüren von Gefühlen kann wiederum Rückwirkungen auf das Fühlen selbst haben und Gefühle verstärken oder abschwächen.

Gefühle ohne Körpererleben gibt es nicht. Sie sind immer mit körperlichen Aktivitäten, und seien es noch so schwache und kaum bemerkbare, verknüpft. Diese Verbindung zeigt sich in zahlreichen Redewendungen: Der Zorn rast, Furcht ist beklemmend, der Neid nagt an jemandem, die Trauer zerreißt das Herz usw. Angst und Enge haben den gleichen Wortstamm. Gefühle verändern den Atem und das vegetative Nervensystem und rufen Veränderungen im gesamten Körper hervor. Manchmal spürbar, oft unmerklich – wobei die Folgen sich erst nach Jahren zeigen können. Es gibt keine Gefühle ohne Körper, deswegen wird der Körper auch als »Bühne der Gefühle« bezeichnet (Damasio 1997, S. 213). Der Körper ist aber nicht nur passive Bühne, sondern es gibt Rückkoppelungen zwischen den körperlichen und den emotionalen Aspekten der Lebendigkeit. Vielen Menschen helfen z. B. Atemübungen oder Joggen gegen zu starke Ängste oder andere emotionale Überforderungen.

Die Gehirnforschung hat das limbische System im Gehirn als die Region identifiziert, die bei emotionalen Regungen besonders aktiv ist. Sie ist nicht die einzige Region, aber sie ist offensichtlich die für Gefühle besonders zuständige Schaltstelle im Gehirn. Doch Gefühle damit auf Aktivitäten des limbischen Systems zu reduzieren wäre ein Fehlschluss.

Liebe ist auch eine Aktivität des limbischen Systems, aber auch eine Aktivität anderer Teile des Gehirns und vor allem ein Ausdruck einer Beziehung zweier oder mehrerer Menschen, ein körperliches Zugewandtsein und vieles andere mehr. Angst ist auch eine Erhöhung des Pulses, aber auch viel mehr, ein Prozess, der den ganzen Körper ergreift bzw. ergreifen kann, das gesamte Erleben in Fleisch und Blut. Ich liebe oder ängstige mich, ich als ganzer Mensch, nicht ein Teil meines Gehirns, nicht eine Funktion meines Körpers.

Ausgehend von solch einem Verständnis der Gefühle wird deutlich, welchen Sinn die Existenz von Gefühlen hat

Lebewesen ohne Gefühle reagieren auf äußere Reize unmittelbar: Nahrung bedeutet Fressen, Bedrohung bedeutet Kämpfen oder Fliehen usw. Solche unmittelbaren Reaktionen haben Menschen und andere Lebewesen mit Gefühlen (wie z. B. Hunde) auch, aber sie bestimmen nicht allein unser bzw. deren Verhalten. Gefühle ermöglichen gerade dem Menschen ein differenzierteres Verhalten, differenzierte Reaktionen und verhelfen damit zu größeren Überlebenschancen in einer komplexen Umwelt.

Diese These über den grundlegenden Nutzen der Gefühle wird verständlicher, wenn wir einzelne sinnstiftende Aspekte der Emotionen genauer betrachten. (Wir benutzen die Begriffe »Gefühle« und »Emotionen« synonym. Unterscheidungen, die manchmal in der Fachliteratur getroffen werden, konnten uns nicht überzeugen.) Dazu ist es wichtig, zu untersuchen, was Gefühle bewirken:

Gefühle regulieren Beziehungen zu anderen Menschen. Man kann sie als »soziales Organ« bezeichnen

Bei manchen Gefühlen ist offensichtlich, dass sie sozialen Bezügen entspringen. Das Schamgefühl kann in einer Beschämungserfahrung wurzeln, die Angst in einer Bedrohung. Neid und Eifersucht können aus Vergleichen mit anderen entstehen, Zorn und Hass Reaktionen auf das Verhalten anderer sein.

Bei anderen Gefühlen stehen eher die Wirkungen auf das Sozialverhalten im Vordergrund. Wer sich verloren fühlt, kann sich zurückziehen oder schaumschlagend auftrumpfen und so tun, »als ob«. Wer hilflos ist, kann aggressiv um sich schlagen oder erstarren.

Auch die Gefühle, deren Quelle in Beziehungen zu anderen offensichtlich ist, bewirken differenzierte Veränderungen des Gerichtetseins zu anderen. Die Scham bewirkt Rückzug, Angst führt zu Vermeidung. Liebe zieht zu jemandem hin, Zorn verändert, Hass vernichtet, Freundschaft verbindet usw. Gefühle sind also nicht in einem Menschen isolierte Regungen. Es gibt kein Gefühl ohne den anderen.

Gefühle verhelfen zu Bewertungen

Das limbische System im Gehirn ist bei jeder Entscheidung beteiligt, ganz gleich, ob es darum geht, was ein Mensch wahrnimmt, was er mag oder was er tut. Die Trennung zwischen Kognitivem und Emotionalem hat sich als ein Märchen herausgestellt. Es gibt kein Denken ohne Gefühle. Bei jeder Bewertung, die ein Mensch vornimmt, bei jeder Entscheidung, die er trifft, sind Gefühle beteiligt.

Besonders deutlich wird dies beim Interesse. Ob ich mich für etwas interessiere und wofür ich mich interessiere, das ist ein wesentlich emotionaler Prozess.

Oft sind solche Bewertungen nicht so bewusst wie bei der Entscheidung, ob ich diese oder jene Frau, diesen oder jenen Mann heirate, doch wirksam sind sie immer.

Bei einigen Menschen wurde der präfrontale Kortex, eine Gehirnregion, durch Unfälle zerstört. Damit ist eine wesentliche Verbindung zwischen limbischem System und den Regionen unterbrochen, die eher beim kognitiven Denken aktiv sind. Diese Menschen können weitgehend genauso rational denken wie andere Menschen, sie orientieren sich aber nur an unmittelbarer Effektivität – und dies maßlos –, ohne Wertmaßstäbe zu haben. Gerechtigkeitsgefühle sind unbekannt und es gibt keine Bremsen gegen Gewalttätigkeit. Moral braucht also Gefühl (Breuer 2002).

Gefühle stoßen Entscheidungen an, vor allem spontane Entscheidungen

Meine Angst und mein Schrecken helfen mir, beim Geräusch quietschender Bremsen innezuhalten und dem Auto auszuweichen. Ich reagiere völlig spontan, denn ich habe keine Zeit, lange darüber nachzudenken und das Für und Wider abzuwägen. Das können Gefühle: spontane Entscheidungen bewirken. Meine Freude über das Geschenk führt zu einem Strahlen und einer Umarmung, mein Ärger über die kränkende Bemerkung meines Kollegen bewirkt, dass ich mich spontan von ihm zurückziehe. Solche spontanen gefühlsgeleiteten Reaktionen können häufig beobachtet werden. Auch wenn in vielen gesellschaftlichen Bereichen, vor allem der Berufswelt, heute spontane gefühlsgeleitete Handlungen verpönt sind, so ist das eher ein Ausdruck gesellschaftlicher Normen oder existierender Ängste vor Spontaneität und Emotionalität als Beschreibung der inneren Wirklichkeit bei den Menschen.

Selbstverständlich können Gefühle auch über das Spontane hinaus lang anhaltende Wirkungen hervorrufen bzw. Verhalten lang andauernd beeinflussen. Der Hass kann ein ganzes Leben bestimmen, ein Schuldgefühl kann die Triebkraft sein, jahrzehntelang mit einem Partner zusammenzuleben, den man nicht mag. Wie bei den spontanen Entscheidungen haben Gefühle hier eine Anstoßqualität. Sie stoßen Entscheidungen zu Verhalten an, dessen Auswirkungen unterschiedlich lang sein können.

Das vernünftige, planende Denken braucht Zeit und Raum. Beides ist bei spontanen Entscheidungssituationen nicht vorhanden. Sind Zeit und Raum für vernünftiges, planendes Denken vorhanden, bieten Gefühle den leiblichen Grund und beeinflussen die Richtung des Denkens. Die Ingenieure berechnen die Konstruktion einer tragfähigen Brücke über den Fluss. Die Sehnsucht und das Interesse, den Fluss überqueren zu können, gaben den Anstoß dazu, überhaupt mit dieser Arbeit zu beginnen.

Gefühle regulieren Intensität

Wenn ich eine Arbeit erledige, wird das Arbeitsergebnis auch davon abhängen, ob ich mit Freude oder mit Widerwillen arbeite. Wenn mein Interesse schwach ist, werde ich anders handeln, als wenn mich Sehnsucht und Leidenschaft erfüllen. Den kleinen Ärger kann ich vielleicht äußern und damit loswerden oder eher beiläufig abtun. Die große Wut bedarf intensiverer Beschäftigung, sonst wird sie folgenreich gegen mich selbst umgelenkt werden. Ob ich jemanden mag oder von tiefer Liebe zu jemandem erfüllt bin, bewirkt unterschiedliches Erleben. Gefühle beeinflussen die Höhe des Erregungsniveaus und regulieren die Intensität meines Erlebens und meines Handelns.

Gefühle ermöglichen Prozesse

Sie entscheiden darüber, was wichtig genug ist, dass sich ein Mensch erinnert. An die meisten Treppen, über die ein Mensch gegangen ist, wird er sich nicht mehr erinnern. Die große Treppe am Montmartre, die das Liebespaar während der Flitterwochen in Paris bestiegen hat, wird ebenso unauslöschlich in Erinnerung bleiben wie die Treppe, die jemand hinuntergefallen ist. Die Gefühle des Glücks (in Paris) und des Schreckens (beim Sturz) sind Marker der Erinnerung.

In die aktuellen Erfahrungen z. B. des Treppensteigens fließen solche Erinnerungen mit ein. Die Sorge vor einem erneuten Sturz kann zu einem zukunftsbeeinflussenden Handeln führen, indem an der Haustreppe ein Geländer angebracht wird. Gefühle spannen so Bögen von der Vergangenheit in die Gegenwart und von der Gegenwart in die Zukunft. Sie ermöglichen und gestalten prozesshaftes Erleben.

Diese große Bedeutung unserer Emotionalität findet Ausdruck in der Aussage, dass Gefühle »Kern unseres subjektiven Erlebens« sind (Fuchs 2008, S. 137). Deshalb ist wichtig, ihnen Raum zu geben.

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