Direkt zum Inhalt

Leseprobe »Die Kraft der Unsicherheit«: Einleitung: Zeigen, was ist

Wir sind unsicherer geworden: In den letzten Jahren hat sich die Zahl der Menschen, die sich unter Leuten unwohl fühlen, zugenommen. Schuld daran ist nicht nur die Pandemie, sondern auch andere Faktoren, wie die raue Bewertungskultur in den sozialen Medien oder unsere Optimierungsgesellschaft. Sozial unsichere Menschen empfinden eine tiefe Angst vor Bewertung und haben ständig das Gefühl, dagegen ankämpfen zu müssen. Dieses Buch will Wege aufzeigen, wie wir selbstbewusster durch schwierige soziale Situationen navigieren, ohne uns zu verbiegen. Eine Leseprobe
Ein Mann liegt verängstigt im Bett.

»Bist du ein unsicherer Mensch?« Diese Frage kam vor einiger Zeit bei einem Geburtstagsessen auf. Wir saßen mit etwa acht Leuten um einen Tisch, die Pasta-Teller hatten wir gerade abgeräumt, bei neuen Getränken und Espresso herrschte Plauderstimmung: Unsicher sei er schon seit seiner Jugend, erzählte ein Jurist Mitte vierzig. Er hätte auf Partys oder auch später in Bars nie jemanden ansprechen können und sei heilfroh, dass es heute Dating-Apps gebe. Eine Freundin von mir ergänzte, sie sei zwar beim Ausgehen nicht scheu, hasse dafür Small Talk im Job. Bei Empfängen oder Konferenzen würde ihr schnell der Schweiß ausbrechen, sie habe deshalb immer ein Oberteil zum Wechseln in der Handtasche, klein gefaltet in einer speziellen Technik, man könnte sie Angst-Origami nennen. Plötzlich war es, als wäre ein Understatement-Wettbewerb ausgerufen worden. Alle versuchten, sich gegenseitig in Peinlichkeiten zu überbieten, erzählten Geschichten vom Stottern, Hüsteln, Stolpern, Rotwerden. Es wurde viel gelacht, komplizenhaft und erleichtert. Eine Frau sprach dann noch ernst über die lähmende Angst, etwas Falsches zu sagen, die sie einhole, wenn sie neue Leute kennenlerne. Und immer wieder sagte jemand: »Ich hätte nie gedacht, dass ausgerechnet du unsicher bist« oder: »Jetzt übertreibst du aber – du bist doch nun wirklich eine Rampensau.« Wir hätten den anderen keine Hemmungen oder Ängste angemerkt. Doch am Ende des Abends stand fest: Wir sind eine Bande von sozial Unsicheren. Kein Einziger von uns hielt sich für souverän, gelassen oder cool im Kontakt mit anderen.

Was war passiert? Konnte es sein, dass mein Bekanntenkreis eine Ausnahme ist, eine Bubble von unsicheren Zweiflern, die an so einem Abend einen Echoraum der Betretenheit bilden, während draußen in der Welt jede Menge selbstsicherer, unerschrockener und sozial versierter Leute herumlaufen, die wir aber alle nicht kennen? Oder haben die allermeisten Menschen zumindest gelegentlich mit Hemmungen und sozialer Unsicherheit zu tun und sprechen nur nicht darüber? Eine abschließende Antwort darauf gibt es nicht. Doch nach den Monaten, in denen ich für dieses Buch Fakten, Zahlen und Ansichten recherchiert und zahlreiche Interviews geführt habe, wage ich die Einschätzung, dass soziale Unsicherheit weitverbreitet ist. Bei manchen Menschen nur in speziellen Job-, Flirt- oder Party-Situationen, die sie zum Teil auch geschickt vermeiden. Bei anderen sind es diffuse Befürchtungen, in Teams, Gruppen oder an der Supermarktkasse irgendwie blöd dazustehen, falsch und ungenügend zu sein. Man kann also durchaus sagen: Wir sind soziale Wesen. Deshalb haben wir auch immer wieder soziale Ängste. Eine Störung ist das erst mal nicht. Im Gegenteil. Eine abwartende, verschämte, tastende, stille Haltung zur Welt gehört nicht nur zum normalen Repertoire menschlicher Temperamente, es gibt sogar so etwas wie eine Kraft der Unsicherheit – sie kann in vielen Situationen auch sinnvoll und vorteilhaft sein. Sozial ängstliche Menschen bringen auch immer besondere Stärken mit, sind beispielsweise häufig besonders einfühlsam und sensibel im Umgang mit anderen.

Doch beliebt sind soziale Unsicherheiten verständlicherweise erst einmal nicht. Es ist schließlich kein angenehmes Gefühl, sich vor anderen gehemmt zu fühlen, darüber nachzudenken, was all die Leute wohl von einem denken oder welchen Satz man als Nächstes sagen könnte. Oft schlagen sich solche Zitterpartien auch körperlich nieder und sind mit »Blood, Sweat and Tears« verbunden. Und wer im Kontakt mit anderen Menschen regelrecht Panik bekommt – obwohl rational eigentlich klar ist, dass kein Grund dazu besteht –, fühlt sich ausgeliefert, bedroht und ohnmächtig. Wenn wir uns beim Betriebsausflug oder Klassentreffen so fühlen, als würden wir gerade auf einem Hochseil zwischen zwei Berggipfeln balancieren und könnten jeden Moment fallen, halten wir die Idee, die Unsicherheit als etwas Normales anzusehen oder ihr sogar noch etwas Gutes abzugewinnen, für einen blanken Hohn.

Und auch wenn alle Menschen sich gelegentlich mal unsicher fühlen, gibt es in den Angststärken und beim empfundenen Leid selbstredend Unterschiede: Mindestens zwei Prozent der Menschen fühlen sich durch soziale Unsicherheit und Angst vor der Bewertung anderer sehr eingeschränkt, vermeiden zahlreiche soziale Situationen häufig so konsequent, dass sie sich privat oder beruflich oft selbst im Weg stehen, nicht auf ihre Wünsche und Träume zugehen können. Manche ziehen sich auch komplett zurück, igeln sich ein und verlassen kaum noch das Haus. Eine so starke Belastung wird als »Soziale Phobie« bezeichnet, eine klinisch relevante Angst vor anderen, die im Diagnosemanual klinischer Psychologen beschrieben ist als »deutliche Furcht, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen oder sich peinlich oder erniedrigend zu verhalten« und die manchmal auch primär aus der oben beschriebenen Vermeidung besteht. Hier ist häufig eine psychotherapeutische Behandlung hilfreich und angeraten.

Darüber hinaus gibt es laut Studien sehr viele Menschen, die sich selbst als schüchtern oder gelegentlich sozial unsicher beschreiben, die in einigen Situationen sehr leiden, sich in anderen Momenten aber auch angstfrei bewegen. Diese Art leichte, man könnte auch sagen subklinische soziale Unsicherheit ist je nach Kulturkreis unterschiedlich weit verbreitet und liegt in Deutschland und den USA bei etwa 40 Prozent der Bevölkerung, in einigen Ländern des afrikanischen Kontinents liegt sie etwas niedriger, im asiatischen Raum etwas höher. Auch bei diesen Menschen ist die Unsicherheit ein Lebensbegleiter – man navigiert trotzdem halbwegs eigenständig durch die Welt des Arbeitens, Lebens und Liebens. Mehrere aus der Geburtstagsgesellschaft würden sich in dieser Beschreibung wiederfinden, sich als betreten oder wenig selbstbewusst im Umgang mit anderen beschreiben. Wie normal es ist, gelegentlich soziale Ängste zu haben, wird besonders deutlich, wenn man den Schwierigkeitsgrad steigert und sich eher herausfordernde soziale Situationen ansieht: Wie wäre es zum Beispiel, bei einer Familienfeier eine Rede zu halten oder vor einer Gruppe von Kolleg:innen eine Präsentation vorzutragen? Zum Reden vor Gruppen gibt es unterschiedliche Untersuchungen. Je nach Studie geben bis zu 75 Prozent der Menschen an, davor Angst zu haben: so viele Augen, so viele Fehlerquellen, so viele Fettnäpfchen. Sie selbst bekommen bei der bloßen Vorstellung ein mulmiges Gefühl? Eben, genau darum geht es. Eine gewisse soziale Angst ist für jeden Menschen spürbar. Nur das Ausmaß ist unterschiedlich. Und die Schwelle, ab wann man eine Situation als Herausforderung ansieht. Ob Sie sich mit den eigenen Hemmungen und sozialen Unsicherheiten weiter beschäftigen wollen, hat also bis zu einer bestimmten Ausprägung vor allem mit dem eigenen Bauchgefühl zu tun. Es wird Ihnen sagen, ob soziale Ängste für Sie gerade ein Thema sind oder nicht. Und ob Ihnen die Komfortzone, in der Sie sich mit anderen sicher fühlen, im Augenblick groß genug ist oder ob die Unsicherheit Ihr Leben immer mehr schrumpfen lässt.

Der Schluss aus den Statistiken ist jedenfalls nicht, die Hälfte der Menschheit als ängstliche, unsichere Problemfälle abzustempeln. Auch hier kann man es genau umgekehrt betrachten: Der Blick auf die Zahlen zeigt, dass ein bestimmtes Maß an sozialer Angst für viele Menschen zum Leben gehört. Und zwar, obwohl man weiß, dass es rational nicht nötig wäre, sich irgendwie zu ängstigen oder zu kontrollieren. Das bedeutet aber auch: Obwohl uns Betretenheit, Zweifel, Schamgefühle und Unsicherheiten gelegentlich hemmen und quälen, macht es keinen Sinn, diese Emotionen zu verteufeln, abzuwerten oder um jeden Preis loswerden zu wollen. Psychologen verschiedener therapeutischer Schulen sind sich heute einig, dass es im Umgang mit Gehemmtheit und sozialer Unsicherheit ein erster wichtiger Schritt ist, das Gefühl von Angst nicht mehr zu bekämpfen – sondern wahrzunehmen, einordnen zu können und zu akzeptieren. Der Psychotherapeut Matthias Wengenroth, Vertreter der Akzeptanz- und Commitment-Therapie und Autor mehrerer Fachbücher zum Thema, schlägt beispielsweise sowohl bei alltäglichen als auch bei klinischen Ängsten vor, eine neue Grundhaltung auszuprobieren: »Es hilft, sich klarzumachen, dass es nicht peinlich, gefährlich, unerträglich oder schlimm ist, Angst zu haben – es ist schlicht menschlich.« Unsicherheit und soziale Angst als etwas zu sehen, was unser Leben immer mal wieder begleitet, kann der Beginn einer akzeptierenden Haltung sein. Wenn wir das bewusster spüren, kann es leichter werden, ungünstige Muster loszulassen. Wie wäre es, wenn Sie sich vorstellen, dass Ihre Unsicherheit einfach mit dabei ist und Sie trotzdem alles machen können, was Ihnen wichtig ist? Marktschreierische Versprechen wie »Besiege deine Angst«, »Nie mehr unsicher!« oder »So überwand ich meine Schüchternheit« sind dann nicht mehr nötig – wir erkennen an, dass soziale Unsicherheit im Alltag immer mal wieder auftaucht. Und manchmal auch viel Raum einnimmt. Na und?

Falls das jetzt ein bisschen zu abstrakt klingt und Sie damit in der Luft hängen: Um die komplexen Mechanismen im Umgang mit starken Gefühlen greifbarer zu machen, helfen oft bildliche Vorstellungen, die heute vielfach genutzt werden und die meistens ebenfalls aus der Akzeptanz- und Commitment-Therapie stammen. Eines der eindrücklichsten Bilder ist es, sich die eigene Unsicherheit, Scham oder Bewertungsangst als eine Art Monster vorzustellen. Das Monster steht vor einem, versperrt einem den Weg, sieht fürchterlich bedrohlich aus oder nervt einfach nur. Solange man gegen diese Gestalt auf dem Weg ankämpft, hat man nicht die Hände frei, hat keine freie Sicht, kann nicht am Leben teilnehmen, so sehr ist man vom Gefühl der Unsicherheit absorbiert, ist man damit beschäftigt, es loszuwerden. Wenn man aufhört zu kämpfen, stattdessen die Angst oder Unsicherheit, die vom Monster verkörpert wird, neben sich stellt und Arm in Arm mit diesem Monster durchs Leben geht, wird es leichter. Nach und nach, Schritt für Schritt, wird es selbstverständlicher, dass man den Weg gemeinsam geht.

Die Übung »Arm-in-Arm-mit-dem-Monster«, die vom Psychologieprofessor Steven C. Hayes stammt, ist eine von vielen, die es zur Psychoedukation im Umgang mit unliebsamen Gefühlen gibt. Ich habe von dieser Metapher zunächst in Interviews gehört, die ich mit Psychotherapeut:innen geführt habe, habe sie in Fachbüchern wiedergefunden, sie gelegentlich in eigenen Texten aufgegriffen, habe das Bild in Coaching und Beratung angeboten und immer wieder gespürt, wie mächtig und stärkend es ist, wie begeistert Klient:innen sowie Leser:innen auf die Idee reagieren, mit einer bestimmten Art von Angst oder Unsicherheit bewusster und letztlich gelassener durchs Leben zu gehen. Es kommt oft einem Aha-Erlebnis gleich, verbunden mit Erleichterung. Viele berichten, dass sie sich sicherer im Umgang mit sich selbst fühlen würden. Und mit ihrer Aufmerksamkeit mehr bei sich als bei den anderen. Ich finde, das ist eine gute Aussicht für die persönliche Entwicklung.

Nun sind Sie dran: Stellen Sie sich vor, Sie gehen ab jetzt Arm in Arm mit der Unsicherheit, der sozialen Angst, der Gehemmtheit durchs Leben. Sie hören auf zu kämpfen. Was würde sich ändern? Wenn Sie wollen, könnten Sie dazu, als eine erste kleine Übung, ein paar Sätze aufschreiben und sich mit der Vorstellung noch etwas mehr vertraut machen.

In den Kapiteln zwei bis sieben zeige ich, wie es Menschen mit ganz unterschiedlichen sozialen Ängsten, Selbstwertproblemen, Ausgrenzungserfahrungen, Schüchternheit oder ausgeprägten Schamgefühlen gelingt, die Unsicherheiten so in ihr Leben zu integrieren, dass sie oft gleichzeitig gehemmt und mutig, aufgeregt und cool, zweifelnd und sicher sind. Denn auch wenn wir es nicht glauben, wenn wir am Montagmorgen im Team die Tagesordnung vorstellen und dabei schwitzen und straucheln – wir sind viel mehr als unsere Unsicherheit. Da sind eine Menge Kompetenzen und andere Gefühle, die uns ebenfalls ausmachen. Gleichzeitig mutig und ängstlich zu sein, gleichzeitig sichtbar zu sein und scheu, das widerspricht sich überhaupt nicht. Man denke nur an eine Superhelden-Figur wie Peter Parker alias Spiderman, der anfangs als schüchtern und zurückhaltend beschrieben wird und in einem anderen Kostüm ein paar Szenen später Stärke demonstriert, an Wänden hochklettert und noch eben kurz die Welt rettet. Ohne seine

Unsicherheit, das ist klar, würde der ganzen Geschichte etwas Entscheidendes fehlen. Nicht umsonst ist Spiderman laut einer Statistik der beliebteste aller Superhelden.

Und apropos Heldenstorys: Es ist mir wichtig, im Text auch herauszustellen, welche besonderen Stärken und Superkräfte Menschen haben, die von sich selbst sagen, dass sie schüchtern, scheu, gehemmt und verschämt sind. Welche Entwicklungen sie machen können, wenn sie sich selbst in ihren Eigenarten ernst nehmen. Und wie sie sich trotz einer eher unsicheren oder zweifelnden Art wohlfühlen können. Damit das auch praktisch und in den Niederungen des Alltags gelingt, habe ich für Sie am Ende des Buchs ein Coaching in zehn Schritten für einen kompetenten Umgang mit der eigenen Unsicherheit konzipiert, zahlreiche praktische Übungen zusammengestellt. Es ist eine Art Trainings-Parcours, mit dessen Hilfe Sie nach und nach lernen, stimmig mit der eigenen Angst vor Bewertung umzugehen, und der Ihnen einige Möglichkeiten zeigt, mit der Frage »Was denken andere von mir?« souveräner umzugehen als bisher. Sie bekommen Anregungen zu Selbstreflexion und Innenschau, die es Ihnen ermöglichen, eine andere Haltung zur Unsicherheit einzunehmen. Genauso wichtig sind die Übungen, die Sie darin unterstützen, aktiv zu werden und trotz Unsicherheit überall dort hinzugehen, wo es für Sie wichtig ist. Hier gibt es auch erste Anregungen dazu, wie Sie in sozialen Situationen mit aufkommender Panik kompetent umgehen können. Außerdem bekommen Sie zum Ende eines jeden Kapitels jeweils einen kurzen Impuls, eine Einladung zu einem kleinen alltäglichen Experiment, mit dem Sie ins Handeln kommen und »einfach machen«. Ich ermutige Sie ausdrücklich, möglichst viele der Coachingschritte und praktischen Übungen auszuprobieren. Und wenn Sie ungeduldig sind, spricht nichts dagegen, gleich in den Übungsteil im letzten Drittel des Buchs zu springen. Sie finden dort für unterschiedliche Ausprägungen von Unsicherheit neue Impulse und Hilfen. Ganz gleich, ob Sie eher schüchtern und gehemmt, vermeidend und ängstlich, introvertiert oder sensibel sind, einige der Anregungen werden für Sie sicher passen. Und wenn Sie im Moment noch nicht genau wissen, wie Sie sich selbst beschreiben würden, ist das auch kein Pro blem: Im Verlauf des Buchs werden Sie ein Gefühl dafür bekommen, in welchen Kapiteln Sie sich wiederfinden und was für Sie weniger relevant ist.

Wie hilfreich es ist, einfach loszulegen und sich ein paar neue Einsichten und Erfahrungen zu gönnen, werden Sie sicher noch merken. Und wie schön es ist, das Gefühl zuzulassen, auch mit Unsicherheit und Zurückhaltung im Gepäck nicht falsch, sondern gut genug zu sein. Falls Ihnen das im Moment noch unwahrscheinlich schwer vorkommt: keine Sorge. Jeder Schritt wird genau angeleitet – und Sie können sich auch durch die Geschichten aus dem Leben der anderen, die im Laufe des Buchs vorgestellt werden, Rückhalt und Inspiration holen.

Sie sind nicht allein auf der Welt mit Ihrer Unsicherheit. Wir sind viele. Und da ist noch etwas: Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass soziale Unsicherheiten und Ängste auch durch gesellschaftliche Faktoren verstärkt werden. Diese Gefühle sind nicht ausschließlich unsere Privatangelegenheit, sie sind kollektiv immer häufiger ein Thema – und nehmen zu. Viele Menschen erleben die gesellschaftliche Lage als angespannt, fürchten um ihre eigene Stellung im Gefüge, wanken in ihrer sozialen Rolle, verlernen den Umgang mit Menschen aus anderen sozialen Blasen.

Soziale Medien können zum Katalysator von Unbehagen, belastenden Vergleichen und Körperscham werden. Das psychosoziale Klima fördert vielfach unsere individuellen Unsicherheiten. Im sich hier anschließenden ersten Kapitel schauen wir uns diese gesellschaftlichen Einflüsse einmal genauer an, die eine bestehende Disposition zu sozialer Angst, Schüchternheit und Schamgefühlen verstärken. Das Thema drängt mehr als früher, es zeigt sich in vielen Situationen. Für Menschen mit einer latenten Angst vor Bewertung wird es schwieriger, ohne Störungen oder weitere Verunsicherungen durch den Alltag zu kommen. Es ist also wichtig, Unsicherheit nicht nur als individuelles, sondern auch als ein kollektives Pro blem wahrzunehmen. Dabei braucht der Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht zum pessimistischen Abgesang zu werden – Endzeit, Baby –, sondern hilft dabei, sich zu orientieren, zu begreifen, die eigene Position als eher unsicherer Mensch in einer kapitalisierten, schnellen, bewertenden Welt bewusst zu erkennen und zu stärken.

Als Wissenschaftsjournalistin und Psychologin verfolge ich in meinen Texten und Beratungen seit Langem einen ressourcenorientierten Blick. Es liegt mir am Herzen, Menschen dazu zu ermutigen, ihre Emotionen wahrnehmen, annehmen und regulieren zu können, genügend Wissen über Mechanismen bei der Entstehung und Bewältigung von Angst zu haben und sich als mündige Menschen oft auch selbst helfen zu können. Und auch wenn es mir suspekt ist, jede Krise gleich als eine Chance zu sehen, so glaube ich doch, dass es gerade die Besonderheiten in unserem Temperament und in unserer Lebensgeschichte sind, die uns auf eine gute Art den Weg weisen und uns zu dem machen, was wir sind. Denn darum geht es: Zu sich selbst zu stehen und sich, trotz Unsicherheiten, stimmig zu entwickeln.

In meiner persönlichen Geschichte ist es mir zum Teil so ergangen. In der Runde bei der Geburtstagsgesellschaft war ich diejenige, die sich wahrscheinlich am meisten mit sozialer Unsicherheit auseinandergesetzt hat. Nicht allein aus fachlich-psychologischem Interesse – mir blieb nichts anderes übrig. Obwohl ich ein neugieriger Mensch bin, laut sein kann und in vertrauten Kreisen gern im Mittelpunkt stehe, fühle ich mich in Gegenwart anderer Menschen schnell verunsichert und falsch. Die alarmierende Frage »Habe ich mich jetzt blamiert?« war im jungen Erwachsenenalter mein Mantra. Bis heute gibt es zahlreiche Gelegenheiten, bei denen sich diese Frage wieder in den Vordergrund schiebt, etwa, wenn ich die Reaktion einer anderen Person nicht verstehe, seltsam oder feindselig f inde. Oder wenn ich in unbekannten, schwer einschätzbaren Situationen bin. Was für mich erschwerend hinzukommt: Man sieht mir meine Unsicherheit an. Zwischen fünfzehn und fünfunddreißig bin ich immer rot geworden, wenn mir etwas unangenehm war. Ich habe mit den Jahren gelernt, darüber zu scherzen, wie es Männer tun, die früh eine Glatze bekommen – man weiß, dass es auffällt, aber man versucht, drüberzustehen. Unwohl habe ich mich trotzdem gefühlt. Was mir geholfen hat: Ich habe bewusst entschieden, dass meine Dünnhäutigkeit mich nicht daran hindern soll, die Sachen zu machen, die mir wichtig sind. Ich rede auf Bühnen, spreche jede:n Interviewpartner:in an, die oder der mir interessant erscheint. Ich gehe in Plattenläden, vor denen ich früher Angst hatte, und mache einen Scherz, wenn ich im Supermarkt mein Portemonnaie nicht finde und sich eine lange Schlange hinter mir bildet. All das gelingt mir so gut wie nie in Heldinnenpose, sondern mit Mut zur Lücke, Selbstironie und von mir aus auch mit roten Bäckchen oder beschlagener Brille. Auf die Frage »Bist du ein unsicherer Mensch?« würde ich heute sagen: Sicher. Aber ich denke nicht mehr so viel darüber nach.

Und weil ich meine eigene Unsicherheit gelegentlich thematisiere, mache ich schon lange die Erfahrung, dass sich Türen öffnen, sobald man über Hemmungen spricht oder Betretenheit zeigt. So war es an dem Abend bei der Geburtstagsfeier auch. Wenn man einander die eigenen Unsicherheiten offenbart, kommt man sich näher. Lena Hauser, um die es in Kapitel zwei geht und die jahrelang nicht gut auf Partys gehen konnte, sagt es so: »Wenn ich anderen zeige, dass ich unsicher bin, ist das Eis meistens sofort gebrochen.« Das ist keine Masche. Wenn wir mit allem da sind, was wir haben, mit Stärken und Schwächen, dann ist Begegnung möglich. Wir verbinden uns dann auch darin, dass wir alle gelegentlich unsicher sind. Und das ist auch gut so.

Leider endet die Leseprobe an dieser Stelle. Das Buch »Die Kraft der Unsicherheit« bietet mehr.

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.